15 | Tai Lennox

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Tai stand auf und machte sich auf den Weg zu einer der Türen des Esssaals. Spätestens in diesem Moment musste Keavan begriffen haben, was sie vorhatte, denn er sprang auf und rannte ihr hinterher. Kaum hatte die Tür des Esssaals sich hinter ihnen geschlossen, packte er sie am Arm und drückte sie gegen die Wand. Tai öffnete den Mund, um zu schreien, weil es hier garantiert Kameras gab, denen sie verraten konnte, dass Keavan eine Aschefee war, aber er presste ihr die Hand auf den Mund. „Ich kann dich mit einer Berührung in Asche verwandeln", zischte er in ihr Ohr. „Bist du sicher, dass du schreien willst?"

Verschwunden war der Junge, der mit ihr geflirtet hatte. Dieser Mann war ein Magisches Wesen, und vor allem war er gefährlich.

Keavan zerrte Tai den Flur entlang in den Palastgarten, bis zu dem Ort, an dem sie letzte Nacht gesessen hatten. Noch immer standen einige leere Flaschen dort, von denen sich bisher niemand die Mühe gemacht hatte, sie wegzuräumen.

Hier gab es keine Kameras. Wenn Keavan sie umbringen würde, würde ihn vielleicht niemand erwischen.

Und die Teilnehmenden durften keine Waffe bei sich tragen. Tai hatte keine Waffe, nichts, womit sie sich hätte wehren können außer ihrer Nahkampffähigkeiten. Obwohl sie wusste, dass es gefährlich war, Keavans Haut zu berühren, ballte sie die Hände zu Fäusten, sobald er sie losließ.

„Es war kein kluger Schachzug von mir, dir zu sagen, dass ich den Alkohol aus der Küche gestohlen habe, oder?" Keavan zog einen Mundwinkel hoch, aber sie wussten beide, dass die Situation ganz und gar nicht lustig war.

„Nicht wirklich. Und jetzt entschuldige mich." Tai versuchte, einige Schritte zurück in Richtung des Palastes zu machen.

„Tai, warte." Keavans Stimme brach. Nun versuchte er nicht mehr, seine Fassade aufrechtzuerhalten. „Ich will dich nicht töten müssen."

Ein weiterer Schritt. „Dann töte mich nicht."

Tai wusste, dass sie ein hohes Risiko einging. Sie konnte sterben, von einer Sekunde auf die andere. Sie musste nur schnell genug ins Aufnahmefeld einer Kamera gelangen, dass er ihr nichts mehr antun konnte. Es war dumm gewesen, sich von ihm nach draußen ziehen zu lassen. Drinnen hätte er sie nicht töten können, ohne erwischt zu werden.

„Aber wenn du mich auslieferst, sterbe ich. Willst du wirklich, dass ich sterbe? Wir sind doch Freunde, Tai!", rief er ihr hinterher.

Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um. Sie sahen sich in die Augen. Tais Herz klopfte laut in ihrer Brust. Sie wollte Keavan nicht ausliefern. Obwohl sie vor wenigen Tagen noch gewollt hatte, dass er starb, hatte er irgendwie recht – sie waren Freunde geworden in der kurzen Zeit.

Aber sie hatte eine viel wichtigere Person, die sie retten musste.

„Ich habe eine Freundin, die ich retten muss. Riya."

Keavan schloss zu ihr auf, packte sie wieder am Arm, zog sie zurück unter die Trauerweide. „Dann opferst du einen Freund für einen anderen?", argumentierte er.

„Sie ist nicht eine Freundin. Sie ist meine Freundin. Und es ist meine Schuld, dass sie im Gefängnis sitzt. Ich hätte verhaftet werden müssen, nicht sie. Aber weil sie ein Magisches Wesen ist wurde sie lebenslänglich eingesperrt, während ich nur verwarnt wurde."

„Du bist mit einem Magischen Wesen zusammen?"

„Ich sollte dir nicht so viel geben, das du gegen mich verwenden kannst."

„Aber dann bist du nicht mal hier, weil du den König unterstützt?" Keavans Stimme brach. „Dann musst du erst recht verstehen, dass ich kein schlechter Mensch bin, Tai. Du und ich, wir wollen das Gleiche. Wenn du mich auslieferst, bist du auf dich allein gestellt. Aber wenn du mich nicht auslieferst, kann ich dir helfen, deine Freundin zu retten. Und du kannst mir helfen, meinen Auftrag zu erfüllen."

„Und der wäre?"

„Den König zu töten."

„Dann wollen wir wirklich das Gleiche."

„Siehst du?"

„Aber woher will ich wissen, dass du nicht nur bluffst?", fragte Tai.

„Warum sollte ich bluffen? Für diese Aussage könntest du mich hinrichten lassen, auch wenn ich keine Fee wäre", sagte Keavan.

„Dann sag mir, für wen du arbeitest."

„Tai, bitte ..."

„Sag mir, für wen du arbeitest oder ich liefere dich aus."

Keavan rieb sich den Nacken. „Wusstest du, dass der König seinen Thron nicht rechtmäßig erlangt hat? Er hatte einen älteren Halbbruder, Aryan. Aryan stammt aus einer Affäre des früheren Königs und ist halb Fee, deswegen durfte er laut Gesetz den Thron nicht übernehmen. Aber er hat das nie akzeptiert, deswegen hat er mich beauftragt, um seinen jüngeren Bruder umzubringen. Aryan will die Macht an sich reißen und das Gesetz ändern."

Tais Kopf schwirrte. „Und weswegen hat er dich beauftragt?"

„Ich bin ein Assassine. Einer der besten des Landes."

„Also als man dich gefragt hat, was du werden willst, hast du gesagt, du würdest gerne Menschen umbringen, und dein Umfeld hat das akzeptiert?" Es war ein vergeblicher Versuch, die Stimmung aufzulockern. Keavan, ein Assassine? Tai hatte erwartet, dass ein Teil der Teilnehmenden Dreck am Stecken hatte, aber sie hatte nicht gedacht, dass jemand wie Keavan beruflich Menschen umbrachte.

Keavan grinste. „So in etwa." Tai war froh, dass er mitspielte.

Vielleicht hätte sie sich vor ihm fürchten sollen. Als Assassine hatte er garantiert nicht nur ein paar Menschen umgebracht. Aber die Wahrheit war, sie fürchtete sich nicht vor einem Mörder, weil sie selbst Blut an den Händen kleben hatte. Und vielleicht hatte Keavan nur getötet, um zu überleben. Vielleicht war er gar nicht so anders als sie.

Einen Moment lang standen sie nur da und sahen sich an, schweigend.

„Also, lieferst du mich aus?", fragte Keavan dann. Das Grinsen auf seinen Lippen war verschwunden, die Frage ernst.

„Nein", erwiderte Tai. „Wenn du mir hilfst, meine Freundin zu retten."

„Versprochen."

Keavan machte einige Schritte zurück in Richtung Schloss, aber dieses Mal war es Tai, die ihn zurückhielt. „Warte. Wenn jemand uns fragt, wo wir waren, was sagen wir dann?"

Keavan sah sie an, die Augenbrauen hochgezogen. „Ich hätte eine Idee."

Er streckte ihr die Hand hin und widerwillig griff Tai danach. Sie verschränkte ihre Finger mit seinen und ließ sich von ihm in Richtung des Schlosses ziehen.

Die zweideutigen Kommentare konnte er sich natürlich nicht sparen.

Ein Thron aus Eis und AscheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt