35 | Tai Lennox

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„Wow", sagte Ella.

Tai strich sich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus ihrer Flechtfrisur gelöst hatte. Mit ihren kinnlangen Haaren hatte man kaum etwas machen können und die Stylistin hatte sich darüber beklagt, aber nun fand Tai, dass sie umwerfend aussah. Sie trug ein dunkelblaues Kleid. Das enganliegende Oberteil wurde nur von einem System aus Riemen an ihren Schultern gehalten und der mehrlagige Rock floss wegen Tais Schuhen bis knapp auf den Boden. Die Schuhe waren ebenfalls dunkelblau und hatten hohe Absätze, die aber dick genug waren, dass Tai darin rennen konnte.

Die Stilistin hatte sie geschminkt, ihre Sommersprossen aber nicht überdeckt. Ihre Augen waren auffällig geschminkt, dunkles Make-up, blauer Glitzer und falsche Wimpern, ihre Lippen aber fast farblos. Die Stilistin hatte gesagt, dass zu solchen Bällen viele Leute mit ausgefallenen Outfits kamen und Tai deswegen nicht auffallen würde.

„Ich hätte nicht gedacht, dass dir so etwas gefällt", sagte Ella.

Tai strich ihren Rock glatt. „Ich liebe Kleider, aber auf der Straße kann ich sie nie tragen. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal eines anhatte."

„Ich mag Kleider nicht." Ella trug ein enganliegendes dunkelrotes knielanges Kleid mit Trägern und hohe Schuhe mit dünnen Absätzen, weil sie im Gegensatz zu Tai darin rennen konnte. Das Kleid hatte einen Ausschnitt, ließ aber nichts von ihrem Rücken frei. Die Narben auf ihren Schultern waren mit Make-up abgedeckt worden. Die Stylistin hatte ihre kurzen sandfarbenen Haare geschnitten, sodass es nun aussah wie ein richtiger Haarschnitt, und es stand ihr überraschend gut.

„Sie sind nur Fassade", sagte Ella. „Sie verdecken das Hässliche dahinter. Ich weiß das wahrscheinlich am besten. Ich habe tausende Kleider getragen und ich habe mich in keinem davon schön gefühlt."

Tai zuckte mit den Schultern. „Ich mag sie trotzdem", sagte sie. Sie wünschte sich, Riya könnte sie jetzt sehen. Noch nie hatte sie ihre Freundin so sehr vermisst wie in diesem Moment.

„Tut mir leid", sagte die Stilistin zu Ella. „Kann ich noch etwas verändern?"

„Nein, nein", sagte diese.

Die Stilistin reichte ihnen beiden ein Messer, das sie sich mit einem Lederriemen ums Bein schnallten. Ella musste ihres auf der Innenseite des Oberschenkels tragen, weil ihr Kleid eng anliegend war, Tais wurde von ihrem Rock verdeckt.

„Bereit für den Ball?", fragte Tai mit einem Lächeln.

„Muss ich wohl", sagte Ella.

Vor den Garderoben trafen sie Keavan und Ambrose, die wohl auf sie gewartet hatte. Keavan fielen bei Tais Anblick fast die Augen aus dem Kopf. „Wow. Tai. Du siehst umwerfend aus. Sicher, dass du immer noch ..."

„Nicht mit dir ausgehen will? Ja. Gehen wir." Sie grinste und hakte sich bei ihm unter.

Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Ambrose Ella anstarrte. Blinzelte. Sich durch die Haare fuhr und ihnen dann schnell folgte. Ella stolzierte hinterher, ihr Gesichtsausdruck kalt, die Fassade wieder aufgesetzt. Tai beneidete sie um ihr Schauspieltalent.

Die Tische im Ballsaal waren inzwischen gedeckt worden und in den Ecken standen Vasen mit Blumen. Weil es draußen bereits dunkel war, spendeten die Kronleuchter das einzige Licht und warfen Punkte auf den Boden. Leise Musik spielte, einige Leute hatten zu tanzen begonnen, die meisten standen aber herum, tranken Champagner und redeten. Tai suchte mit den Augen nach dem Adligen, den sie beschützen sollte, ein Mann im weinroten Anzug, von dem sie vorhin ein Foto bekommen hatte. Als sie jemanden fand, der aussah wie der Mann auf dem Foto, gingen sie und Keavan zu ihm und stellten sich kurz vor. Seine Antwort war höflich, aber emotionslos. Er schien sich nicht wirklich für sie zu interessieren.

„Es dauert noch eine Stunde, bis das Essen aufgetragen wird", sagte Keavan, als sie sich ein wenig vom Adligen entfernt hatten, und hielt ihr die Hand hin. „Tanzen?"

Tai ergriff seine Hand und ließ sich lachend von ihm herumwirbeln. Sie wusste nicht ganz, warum sie sich unter die Leute mischen mussten, wahrscheinlich, um das Überraschungsmoment auf ihrer Seite zu haben, aber ihr sollte es recht sein. Sie hatte nie Standardtänze gelernt, aber sie ließ sich von Keavan herumschieben und versuchte, dabei elegant auszusehen.

„Wo hast du tanzen gelernt?", flüsterte sie in sein Ohr.

„Sie bringen es einem auf der ... Schule bei, auf der ich war", sagte Keavan. Wahrscheinlich meinte er die Assassinengilde. Tanzen zu können war sicher ein Vorteil, wenn man sich bei Veranstaltungen wie dieser einschleusen musste. „Aber ich meine, ich bin natürlich ein Naturtalent", fügte er hinzu und grinste.

„Natürlich." Tai schnaubte.

„Glaubst du mir etwa nicht?" Keavan wirbelte sie erneut herum und beugte sie dann nach hinten, sodass sie nur noch von seinem Arm an ihrem Rücken davon abgehalten wurde, sich der Länge nach hinzulegen.

„Das trägt nicht gerade dazu bei, dass ich dir glaube", sagte sie lachend, während sie sich an ihm festklammerte.

Für Außenstehende hätte die Szene wahrscheinlich romantisch ausgesehen, aber Tai dachte die ganze Zeit nur an Riya. Ihr hätte das hier gefallen. Sie war in einer reichen Familie aufgewachsen und hatte immer betont, wie sehr sie solche Events vermisste. Am liebsten hätte Tai ein Foto für sie gemacht, aber sie hatte ihr Handy nicht dabei. Also musste sie sich damit begnügen, mit Keavan zu tanzen. Und zu versuchen, den Adligen nicht aus den Augen zu verlieren.

Ein Thron aus Eis und AscheWhere stories live. Discover now