CHAPTER ONE: HAWKINS

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Vier Jahre später


»Entschuldigen Sie, Miss? Das ist die Endstation.«

Ein Mann mittleren Alters mit grauem Schnauzbart und einer Halbglatze sieht mich über den Rand seiner kreisrunden Brille prüfend an, als hätte er die Sorge, dass ich auf halbem Weg meinen Verstand verloren habe.

Entschuldigend greife ich nach meiner Tasche und schiebe ein »Es tut mir sehr leid. Ich war wohl in Gedanken«, hinterher um ihn zu beruhigen und für nicht noch eine seiner Falten auf der Stirn verantwortlich zu sein. Noch während ich zur hinteren Tür gehe, die bereits offen steht und mir unmissverständlich klar macht, dass ich auszusteigen habe, bleibe ich verwirrt stehen. Ich habe mir den Weg, die Haltestelle und die Umgebung mehr als einhundert Mal angesehen und ich bin mir ganz sicher, dass es sich nicht um die richtige Haltestelle handelt.

»Haben Sie ihre Routen geändert, Sir?«, frage ich an den Busfahrergewandt, der gerade auf dem Weg zu seinem Fahrersitz unterwegs ist und sich nun mit einem genervten Schnauben erneut zu mir umdreht.

»Wir fahren nicht mehr in die Stadt«, antwortet er. »Sie müssen den Rest wohl zu Fuß gehen.«

Meine Verwirrung wächst noch ein kleines Stück weiter. In den Nachrichten habe ich die flüchtenden Menschen gesehen; die Koffer auf den Autodächern; die leeren Häuser. Ich habe die Bilder in meinem Kopfgenau abgespeichert und doch hatte ich irgendwie geglaubt, dass es sich bei Alldem nicht um eine Katastrophe von solchem Ausmaß handeln würde. Ich hatte geglaubt, dass es keinen Grund gab sich lange in dieser Stadt aufzuhalten; hatte ursprünglich sogar überhaupt nicht vorgehabt zurück zu kommen. Es war ein Anflug von Leichtsinn, Neugierde und schlechtem Gewissen gewesen, was mich schließlich dazu getrieben hatte die alte Reisetasche aus meinem Schrank zu suchen; ein Ticket zu kaufen und loszufahren. Bei dem Gedanken daran, dass ich noch vor wenigen Tagen nie wieder an Hawkins hatte denken wollen, zieht sich mein Magen zusammen und ich sehne mir für einen kurzen Augenblick diese Tage zurück, dann wende ich meinen Blick von meinen Schuhspitzen ab und sehe auf.

Der Busfahrer ist ein kleines Stück näher gekommen als vorher. Er steht nur noch eine Armlänge von mir entfernt und sieht mich durchdringend, als ein lautes Grollen mich aus meinen Gedanken reißt. Der Himmel hat sich zugezogen; schwere, dunkle Wolken hängen über uns und nur wenige Sekunden später prasseln erste Regentropfen auf das Dach. Einen Moment wirkt es so, als wolle der Mann noch etwas sagen, dann verschwinden seine Lippen unter seinem Schnauzer, als er sie fest aufeinander presst und die Worte hinunter schluckt. Er nuschelt sich leise etwas in den Bart, was so wie »Pass auf dich auf, Mädchen« klingt.

Ich nicke und zwinge mich zu einem Lächeln. Das ungute Gefühl, welches sich seit meiner Abreise in mir breit gemacht hat, wird stärker, als mein Blick auf mein Handgelenk fällt. Die Haut ist von meinem dunkelgrünen Kapuzenpullover verdeckt, aber ich hab das Gefühl, dass sie in Flammen steht und die Ziffern in Neonfarben leuchten um auf sich aufmerksam zu machen. Ich verspüre eine solche Paranoia, dass ich meine Hand ausstrecke und leicht das kleine Stück nackte Haut am Unterarm des Busfahrers berühre. Mein Blick verschwimmt; meine Umgebung wird dunkel. Konzentriert kneife ich die Augenzusammen und dann sehe ich mich. Ich sehe, wie ich von der Bank an der Bushaltestelle aufstehe und den Bus betrete. Sehe mich durch den Rückspiegel den Gang des Busses entlang gehen und sehe, wie ich mich  auf einen der Sitze sinken lasse. Ich sehe die gesamte Fahrt; die wenigen anderen Fahrgäste die viel früher als ich den Bus wieder verlassen und dann kann ich jedes Detail der letzten Unterhaltungsehen, die nur wenige Augenblicke vorher geführt worden ist. Das alles noch einmal zu erleben dauert kaum eine Minute und als ich die Augen wieder öffne, seine Hand loslasse, den Bus verlasse und mit schnellen Schritten in Richtung der Stadt laufe, die ich mir geschworen habe, nie wieder zu betreten, hat er all das vergessen. Einschließlich mir.

*

Mein Name ist Megan Fields. Mein Name ist Megan Fields. Mein Name ist Megan Fields.

Ich habe die Augen geschlossen und wippe gedankenverloren mit dem Kopf hin und her. Meine Gedanken rasen wie kleine Kreisel hindurch und hinterlassen Chaos. Da ist Blut, viel zu viel Blut und ich kann die schrillen Schmerzensschreie hören, als würde ich mich im gleichen Raum befinden. Es tut so weh, dass ich mir die Ohren zuhalte, auch wenn das absolut nichts bringt. Immer wieder fahre ich mit meinen Fingerspitzen blind über das kleine Tattoo auf meinem Handgelenk.

»Vier, machst du bitte die Tür zu?«, fragt Papa und die Stimme ist so vertraut, dass ich meine Augen öffnen muss um mich zu vergewissern, dass er nicht wirklich neben mir steht. Dass ich immer noch in dem kleinen, schmuddeligen Motel bin, welches direkt an der Stadtgrenze zu Hawkins liegt. Ich bin schon lange nicht mehr Vier. Mein Name ist Megan Fields. Immer weiter wiederhole ich meinen Namen, aber die Erleichterung die ich sonst erfahre, bleibt aus. Hastig stehe ich auf, schnappe nach meinem Pullover und ziehe ihn mir über den Kopf. Ich muss hier raus.

Der Parkplatz ist leer. Es scheint, als wäre jedes Leben im Umkreis um Hawkins verschwunden und obwohl ich vor Kälte und Unwohlsein schaudere, bin ich froh, dass ich alleine bin. Niemand sieht mich, als ich den Wald betrete, der direkt in die Stadt führt. Mein Gedächtnis ist gut; ich kann mich noch ganz genau an die Wege erinnern, habe sie unzählige Male auf einer alten Straßenkartenachgezeichnet, die nun in Los Angeles unter meinem Bett liegt. Im Dunkel stolpere ich ein paar Mal, aber meine Augen gewöhnen sich schnell an die Finsternis und schon bald komme ich schneller voran. Einen Moment lang bereue ich, dass ich keine Taschenlampe eingepackt habe, aber ich bin schon zu weit gekommen um umzudrehen, also marschiere ich einfach schnellen Schrittes weiter, bis sich der Waldschließlich lichtet und ich aus dem Schutz der Bäume trete. Ich stehe auf einem kleinen Berg; die Wiese unter mir ist verdorrt und dunkel und auch die Bäume sehen aus, als hätte man ihnen jedes Leben ausgehaucht. Es wirkt düster und traurig, aber auch wenn mich dieser Anblick erschreckt, liegt meine Aufmerksamkeit auf etwas ganz anderem. Ich sehe direkt auf den Ort, der sofort bewirkt, dass mein gesamter Körper nach Flucht schreit. Das Labor. Die Wände sind an einigen Ecken eingestürzt und obwohl ich aus der Ferne und auf Grund der Dunkelheit nur Umrisse sehen kann, meine ich sogar die Reste der weißen Fliesen durchschimmern zu sehen.

Vorsichtig, wie in Trance, gehe ich einen Schritt nach vorne, doch noch ehe ich  weit komme, hält mich Jemand am Arm zurück. Ich zucke so heftig zusammen, unterdrücke den Schrei, der in meiner Kehle aufsteigt und konzentriere mich mit aller Kraft darauf nicht die Kontrolle zu verlieren. Als ich herumfahre, steht ein junger Mann vor mir.

Ichmustere ihn in Sekundenschnelle. Er ist ungefähr so alt wie ich, vielleicht ein bis zwei Jahre älter. Seine braunen Haare sind voll und etwas länger. In der einen Hand hält er eine Taschenlampe die sein Gesicht ein wenig beleuchtet und obwohl ich am liebsten wegrennen würde, fesselt mich der Blick seiner braunen Augen. Sie sind nicht böse; nicht angriffslustig, sondern ängstlich und traurig. Ich bin mir sicher, dass ich ihn fast mit dem gleichen Blickanstarre, nur das unter seinen Augen dunkle Schatten liegen, als hätte er nächtelang nicht geschlafen.

Im Hintergrund höre ich weitere Stimmen. Sie rufen einen Namen, zweifellos seinen, denn sein Blick zuckt in die Richtung, aus der die Stimmen kommen.

»Steve!«

»Steve!«

»Verdammte Scheiße, Steve! Wo steckst du?«

Das letzte KapitelWhere stories live. Discover now