CHAPTER TWENTY: Eine andere Welt

40 7 0
                                    


»Will hat nicht übertrieben.«

Immer wieder schwirren Dustins Worte durch meinen Kopf und mischen sich mit der Stimme von Will, die sich seit dem Vorabend in mein Gedächtnis gebrannt hat. Wir sind dort angekommen, wo sich unsere Welt mit der Schattenwelt, so wie Dustin sie in seinem kleinen Handbuch nennt, zu mischen scheint. Vor uns, in unverkennbarer Grausamkeit, erstreckt es sich; ein dunkelgraues Stück Land, gesäumt mit Überbleibseln unserer Welt. Verdorrte, leblose Bäume, die in einer scheinbar letzten hilflosen Geste ihre absterbenden Äste in unsere Richtung strecken, ehe sie wie totes, verbranntes Fleisch in sich zusammenfallen. Ich erkenne Häuser, in denen einst Familien gegessen, geschlafen – gelebt hatten und die nun wie vermoderte Ruinen, überzogen mit einer weißen Schicht aus Partikeln und Staub daliegen. Beim Anblick dieser Trostlosigkeit schießen mir Tränen in die Augen und es kostet mich meine gesamte Selbstbeherrschung nicht umzudrehen und dem ganzen Leid den Rücken zu kehren. In meinem Leben hat Grausamkeit so lange seinen Platz gehabt und dennoch ist das, was sich nun vor mir aufbaut so viel schlimmer, als alles was ich bisher gesehen oder erlebt habe. Ganze Leben scheinen hier, in nur einem Wimpernschlag, ausgelöscht worden zu sein und nichts ist übrig davon geblieben, außer Finsternis und Tod.

Wie grelle Leuchtreklame flattert gelbes Absperrband im Wind; in der Mitte entzwei gerissen, genau wie Hawkins. Es ist ein winziges Überbleibsel von jemandem, der sich hier aufgehalten hat und der nun verschwunden ist, genauso wie jegliches Leben, in diesem Teil der Stadt.

Fröstelnd wende ich meinen Blick davon ab. Steve und Dustin gehen mit vorsichtigen Schritten voran und ich zwinge mich dazu, ihnen mit langsamen Schritten zu folgen. Unsere Schuhe hinterlassen ein schmatzendes Geräusch auf dem lehmartigen Boden und hier und da plätschert eine Pfütze unter meinen Sohlen. Regentage sind bislang meist meine liebsten gewesen, doch nun kann ich das Geräusch vom Wasser auf dem Boden und die Feuchtigkeit die sich auf meine Haare legt, kaum ertragen.

Wir gehen eine ganze Weile schweigend hintereinander her, bis Dustin schließlich stehen bleibt und uns dazu zwingt ebenfalls anzuhalten. In einer ruckartigen Bewegung reißt er seine eine Hand hoch und hält sich einen Finger an den Mund. Es ist eine stumme Aufforderung, dass wir leise sein sollen.

In der Ferne zuckt, im selben Moment, erneut ein feuerroter Blitz vom Firmament, gefolgt von einem tiefen, bedrohlichen Donnerschlag, der wie das Knurren eines hungrigen Tieres durch die Nacht hallt und mich zusammen zucken lässt. Eine Gänsehaut breitet sich auf meinem gesamten Körper aus und mir jagt ein Schauer nach dem nächsten über den Rücken. Meine Fingerspitzen beginnen zu kribbeln, wie immer, wenn ich mich bedroht fühle, weshalb ich sie in meinen Taschen vergrabe; so tief, dass ich befürchte Löcher in den Stoff zu reißen.

»Steve«, flüstert Dustin zischend und als ich zu ihm sehe, deutet er mit einem Kopfnicken auf den Fußboden vor uns.

Ich folge seinem Blick und höre, wie Steve geräuschvoll nach Luft schnappt.

Vor uns, über den gesamten Boden verteilt, breiten sich dicke Tentakeln aus. Sie schlängeln sich wie leblose Schlangen durch den Dreck.

»Vorsichtig weiter gehen«, wendet sich Steve an uns. Er hat die Augenbrauen sorgenvoll zusammen gekniffen. »Auf keinen Fall diese Dinger berühren.«

Ich nicke nur. Meine Zunge fühlt sich schwer an und ich bin mir nicht sicher ob ich überhaupt einen Ton herausbringen würde. Ich weiß aus Dustins Buch nur zu genau, was passiert, sollte ich eine davon berühren und allein der Gedanke daran, lässt mich frösteln, als hätte man mir Eiswasser über den Kopf geschüttet.

»Es ist ein Schwarmbewusstsein. Sie sind mit Vecna und den Kreaturen der Schattenwelt verbunden.«

Als wir weiter gehen, kann ich die Anspannung noch deutlicher spüren und ich sehe sie, in jeder noch so kleinen Bewegung der anderen beiden. Es fühlt sich wieder so an wie damals; an den unzähligen, einsamen, schmerzvollen Tagen im Labor, wenn man mich zu Papa gebracht hat; oder wenn eine Krankenschwester mich zum „Unterricht" geholt hat und ich am Ende mit Elektroden am Kopf dagesessen und gefleht habe, dass man mich in Ruhe lässt. Die Gefahr sitzt mir im Nacken und sorgt dafür, dass ich schlecht Luft bekomme. Fast automatisch greife ich mir an die Brust und kralle mich in den Stoff meines Pullovers, der sich plötzlich so viel enger anfühlt, als noch vor wenigen Augenblicken.

»Megan?«, spricht Steve mich an. Ich habe nicht bemerkt, dass er sich zu mir umgedreht hat, aber als ich nun hoch sehe, blickt er mich direkt an. Sein Blick ist besorgt. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Es geht schon«, gebe ich atemlos zurück.

Er mustert mich argwöhnisch. »Dustin, bleib mal kurz stehen«, sagt er laut und er fügt noch ein: »Gib ihr etwas Zeit« hinzu, als dieser sich umdreht und ungeduldig in unsere Richtung blickt.

Ich schüttle den Kopf. »Macht euch um mich mal keine Sorgen.«

»Schon in Ordnung, Megan.«

Seine Stimme klingt sanft.

Meine Finger, die sich immer noch fest um den Stoff meines Pullovers krallen, entspannen sich ein wenig, als ich tief Luft hole. Erneut flammt Dankbarkeit für Steve in mir auf. Für sein Verständnis und die Rücksicht, die er auf mich nimmt, obwohl wir uns erst so kurz kennen und obwohl wir uns in einer Lage befinden, in der eine Pause das letzte ist, was wir gebrauchen können. Es ist eine seltene Eigenschaft so selbstlos zu sein. Sich um andere zu sorgen, auch wenn man selbst vielleicht dadurch auf der Strecke bleibt und es fühlt sich gut an, dass jemand in meinem Leben ist, der sich so offensichtlich dafür interessiert, dass es mir gut geht. Ich kann die positiven Gefühle, die er in diesem flüchtigen Moment in mir weckt, nicht unterdrücken.

Zwischen zwei Atemzügen sehe ich zu ihm und als sich unsere Blicke treffen, verzieht sich mein Mund zu einem winzigen Lächeln. Es fühlt sich gleichermaßen eigenartig, im Angesicht der Bedrohung, wie auch vertraut an. »Danke«, flüstere ich; so leise, dass nur er es hören kann.

Er nickt und fragt: »Schaffst du es weiter?«

»Lass uns gehen.«

Wir setzen unseren Weg fort, kommen aber nur schwer voran. Umso weiter wir gehen, umso dichter liegen die Tentakeln auf dem Boden aneinander und schon bald müssen wir erneut die Richtung wechseln. Als ich mich umdrehe und meine Augen beinahe automatisch nach unserem Auto suchen, ist es bereits nicht mehr zu sehen. Um uns herum ist nur Dunkelheit und dass, was sich in ihr versteckt hält. Es erinnert mich ein wenig an ein Labyrinth, nur dass die Gänge durch die wir gehen nicht aus einer Hecke, sondern aus lebensgefährlichen Tentakeln bestehen.

Irgendwann, ich habe jegliches Zeitgefühl verloren, bleiben wir erneut stehen. Erst glaube ich, dass uns der Weg einfach nur versperrt ist, doch dann folge ich Dustins Blick und mir fällt auf, dass er nicht mehr auf den Boden vor sich starrt, sondern in den Himmel. In dem Moment wo mir klar wird, dass sich der Ausdruck in seinem Gesicht von Entschlossenheit zu fast schon Panik verändert hat, höre ich ein kreischendes, ohrenbetäubendes Geräusch, ähnlich wie das von vorhin; welches nun allerdings von direkt über uns zu kommen scheint. In regelmäßigen Abständen mischt es sich mit dem peitschenden Klang von übergroßen Flügeln. Reflexartig sehe ich zum Himmel und erkenne die Umrisse von hunderten, aus grauem Fleisch geformten Fledermäusen, die direkt in unsere Richtung fliegen und dann passieren mehrere Dinge gleichzeitig.

Erst vernehme ich das aufgebrachte, gefluchte »Scheiße«, welches Steve ausstößt, dann packt er Dustin an der Schulter und wirbelt mit ihm zusammen herum. Im Laufen greift er nach meiner Hand und zieht mich hinter sich her. Am Rande nimmt mein Bewusstsein die Wärme seiner Hand wahr und wie angenehm sich seine Haut auf meiner anfühlt, dann wird das Gefühl von einem Adrenalinschub vertrieben. Ich habe keine Ahnung wohin wir rennen, aber es ist mir auch egal. Meine Konzentration liegt darauf nicht auf die Tentakeln zu treten und nicht beim laufen über meine eigenen Füße zu stolpern. Wir eilen um die nächste Straßenecke und kommen schließlich schlitternd vor einem Haus zum stehen, welches noch nicht völlig zerstört ist. Von außen sieht es beinahe normal aus, doch als Steve sich gegen die Tür schmeißt, fällt sie fast schon widerstandslos aus den Angeln und knallt gegen die Wand. Atemlos keuchend hasten wir hinein, durchqueren den Flur; die Familienbilder ignorierend, die auf der Kommode stehen und uns angrinsen, als könnte ihnen nichts etwas anhaben und kommen in ein weiteres Zimmer. Ich erkenne ziemlich schnell, dass es sich dabei um das Wohnzimmer handeln muss, auch wenn von Gemütlichkeit nichts mehr übrig ist. Die Zimmerpflanzen sind genauso verdorrt wie die draußen. Boden und Möbel sind eingestaubt, als hätte schon seit Jahren niemand mehr in dem Haus gewohnt und auf der einen Seite ist das Fenster zersprungen und die Splitter liegen achtlos davor. Es sieht genauso trostlos aus, wie ich mich in diesem Moment fühle und ein Blick auf die anderen verrät mir, dass auch sie mit dem ganzen zu kämpfen haben.

Eine ganze Weile, es kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit, ist nur unser lautes Atmen zu hören, ehe Steve sich aus seiner Starre befreit, zu Dustin geht und sich vor ihn stellt. Er streckt behutsam eine Hand aus und legt sie ihm auf die Schulter. »Hey, Henderson, soweit alles okay?«, fragt er vorsichtig und ich bemerke an dem hilflosen Blick, dass ein unausgesprochener, tieferer Sinn hinter seinen Worten liegt.

»Diese elendigen Viecher«, stößt Dustin zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er lehnt sich mit der Stirn gegen Steve seine Schulter und ich meine eine Träne seine Wange hinunterlaufen zu sehen.

Das letzte KapitelWhere stories live. Discover now