CHAPTER TWENTYSEVEN: Pfefferminz und Vanille

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Etwa vier Jahre vorher.

Graue Betonwände schauen unheilvoll auf mich herab. Der Himmel über mir, ist kaum zu erkennen, so tief bin ich an der kalten Mauer heruntergerutscht. Es ist kalt, regnerisch und windig; genauso wie die letzten Tage und ich weiß nicht, wie lange es her ist, dass ich etwas gegessen habe. Hawkins habe ich wie einen lästigen Schatten hinter mir gelassen und abgeschüttelt, als würde mir das irgendwas bringen. Das zerschlissene Nachthemd ist viel zu dünn für diese Jahreszeit. Mein ganzer zierlicher, gebrochener Körper zittert vor Kälte und Furcht. Schlaf ist Mangelware. Es kommt mir fast so vor, als wäre es in einem anderen Leben gewesen, wo ich tatsächlich einmal mehr als wenige Stunden am Stück geschlafen habe und das Gefühl von Ausgeruht sein und Sicherheit ist mir völlig fremd geworden. An ihre Stelle sind Leid und Angst getreten und haben sich an mir festgebissen, wie ein hungriges Tier an seiner Beute. Ich fühle mich einsam und ich habe Hunger. Mehr Gefühle möchte ich in diesem Moment nicht zulassen, aber ich kann sie spüren; sie warten ausgesperrt hinter einer dicken Mauer in meinem Kopf, darauf, dass ich sie endlich zulasse. Noch nicht.

Ich rapple mich mühsam hoch. Meine eingefrorenen Finger und Füße protestieren, aber ich muss mich bewegen, damit ich nicht einschlafe und auf dem nassen, kalten Boden erfriere. Die Dämmerung, die auf mich irgendwie immer tröstlich wirkt, weil endlich ein weiterer Tag geschafft ist, hat der Nacht Platz gemacht. Es sind kaum noch Menschen auf der Straße und die wenigen, die durch die stickigen Gassen laufen, in denen ich mich versteckt halte, sind betrunken oder einfach nur desinteressiert. Keiner von ihnen würdigt mich eines Blickes. Vielleicht kann ich heute etwas zu Essen ergattern. Vielleicht auch nicht. Ich versuche nicht zu große Hoffnungen zu haben, damit ich am Ende nicht wieder enttäuscht bin, weshalb es mich nicht groß kümmert, als die Plastiktüte eines Imbisses völlig leer in meinen Händen knistert. Wie ein Tier komme ich mir vor, was ziellos und nach Futter suchend durch die Straßen streift, aber immerhin bin ich nicht mehr im Labor eingesperrt. Wenigstens bin ich noch am Leben.

Während ein weiterer Kälteschauer durch meinen Körper fährt, biege ich um die nächste Ecke. Die wenigen Schaufenster sind nicht mehr beleuchtet, lediglich in einem der Gebäude brennt Licht. Mir fällt auf, dass ich nicht einmal weiß, in welcher Stadt ich mich aufhalte, als mein Blick auf das Schild über dem Fenster fällt. Es ist schmuddelig, alt und ein Buchstabe fehlt. Angestrengt versuche ich es zu entziffern, als eine vorsichtige, erschrocken klingende Stimme mich herumfahren lässt.

»Ach du lieber Himmel, Mädchen!«, ruft die Frau aus, die vor mir steht. Sie ist schlank, hat graue Haare und um die Augen tiefe Falten. Ihr schmaler Mund steht ein Stück offen, als sie mich entsetzt anstarrt. »Was ist denn mit dir passiert?«

Ich überlege ob ich davonlaufen soll, da schlüpft sie aus ihrem Parka, kommt einen Schritt auf mich zu und wickelt ihn um mich herum. Automatisch zucke ich zusammen, aber die Wärme, die von dem Kleidungsstück ausgeht, lässt mich inne halten. Er riecht nach Pfefferminze, Vanille und ein wenig nach Rauch. Ihre beiden manikürten Hände reiben meine Schultern um mich zu wärmen. Die Sanftheit ihrer Berührung fühlt sich seltsam auf meinem geschundenen Körper an. Ich fühle deutlich die blauen Flecken, die sich auf meiner Haut abzeichnen; direkt dort, wo ihre Hände entlang fahren.

»Du wirst dir hier draußen ja noch den Tot holen. In diesem Aufzug, meine Güte.«


Ich weiß nicht was ich darauf antworten soll, deshalb schweige ich. Sie deutet dies als Zeichen dafür, dass ich ihr nicht traue, was zugegebenermaßen gar nicht so falsch ist. Mit zusammengekniffenen Augenbrauen sehe ich sie an.

»Hab keine Angst vor mir«, zwitschert sie. »Kann ich dich irgendwo hinbringen? Wo wohnst du denn?« Sie sieht sich in der Straße um, als würde sie erwarten, dass jeden Moment jemand nach mir suchen würde. Doch das tut niemand. Schon lange nicht mehr.

»Ich habe kein Zuhause«, flüstere ich. Die Worte sind schon lange meine Realität; so lange, dass sie mir völlig normal erscheinen, aber ich kann sehen, dass sie in ihr Traurigkeit auslösen.

»Und deine Eltern? Wo sind die?« Sorge schleicht sich neben die Trauer auf ihr Gesicht.

»Ich habe auch keine Eltern mehr.«

Einen Moment lang mustert die Frau mich prüfend, als würde sie abschätzen wollen wie es um meinen geistigen Zustand steht, dann greift sie nach meiner Hand. »Na, hier kannst du jedenfalls nicht bleiben. Ich nehme dich erst einmal mit zu mir. Was warmes zu essen und zu trinken wird dir gut tun. Was meinst du?«

Sie sieht nicht besonders bedrohlich aus, oder als hätte sie böse Absichten, aber alles in mir schreit danach zu flüchten. Ich habe so lange nur Menschen um mich gehabt dir mir schaden wollten und bin es deshalb nicht mehr gewohnt, dass jemand nett zu mir ist. Ein anderer Teil, fernab von meiner Angst, in diesem Fall ist er einfach größer, sehnt sich nach der Wärme von vier Wänden und einer Mahlzeit. Meine Glieder schmerzen und ich bin so müde, dass ich am liebsten sofort schlafen würde. Erst jetzt, wo der Parka mich wärmt, fällt mir auf wie erschöpft ich eigentlich bin.

Zweifelnd lasse ich mich an einer Hand mitziehen. Sie versucht vorsichtig zu sein, dass kann ich spüren. Noch etwas worauf schon sehr lange niemand mehr geachtet hat. Noch immer kann ich die festen Hände fühlen, die meinen Kopf festhalten und auf dem Untersuchungsstuhl fixieren. Die Erinnerung lässt mich zusammenzucken und ich wage es erst mich ein bisschen zu entspannen, als sie mich schließlich durch eine Haustür in ein mehrstöckiges Gebäude führt. Sie schaltet die Lampen an und zieht ein Schlüsselbund aus ihrer kleinen Handtasche. Neben den Schlüsseln baumelt ein bunter, selbst geflochtener Schlüsselanhänger daran. Im zweiten Stock bleibt sie vor einer Tür stehen. Sie öffnet sie und lässt mich an ihr vorbei gehen. Die Wohnung ist klein und zugestellt. Auf den Kommoden stehen unzählige Figuren aus Porzellan. Katzen, Eichhörnchen, Hunde, fast jedes Tier ist vertreten und auch wenn nichts so wirklich zusammen zu passen scheint, ist es gemütlich.

Unschlüssig bleibe ich stehen, als sie meine Hand loslässt und den Flur durchquert. Sie verschwindet in einem Zimmer. Durch die geöffnete Tür kann ich ein Waschbecken sehen. Wenig später höre ich Wasser rauschen, dann kommt sie wieder heraus und zieht mich vorsichtig hinter sich her in die Küche. Die Stühle sind alle in einer anderen Farbe. »Ich hab eine Badewanne«, sagt sie leise, als würde sie darauf achten wollen, mich nicht zu erschrecken. »Wasser läuft schon. Wenn du also möchtest -« Sie zuckt mit den Schultern.

Ich nicke. Ein Bad ist einfach zu verlockend.

»Schön.« Die Frau lächelt. »Dann mach ich dir in der Zeit was zu essen und suche dir ein paar Klamotten raus. Sie sind dir wahrscheinlich zu groß, aber sie werden dich wärmen.«

»Danke«, murmle ich. Es klingt ein bisschen wie eine Frage, aber selbst wenn sie es bemerkt, übergeht sie es. Sie schenkt mir ein weiteres warmes Lächeln.

»Ich bin übrigens Mrs. Brown«, stellt sie sich vor. »Aber du darfst mich gerne Ellen nennen.«

Einen Moment bin ich unschlüssig, höre Papa laut »Vier« hinter mir her rufen. Sie mischt sich mit der längst verblassten Stimme mit meiner Mutter, die meinen Geburtsnamen flüstert und mir einen Kuss auf die Stirn gibt. Ich verdränge die Erinnerung daran und schlucke den Kloß herunter, der sich in meiner Kehle aufbaut.

»Ich bin Megan«, antworte ich und spreche zum ersten Mal seit Jahren meinen wirklichen Namen wieder aus. Er fühlt sich seltsam auf meiner Zunge an.

An diesem Tag; in dieser Nacht, schlafe ich seit Ewigkeiten auf einer weichen Unterlage. Ellen hat mir ihr Sofa zur Verfügung gestellt und auch wenn ich nicht verstehe, weshalb sie so nett zu mir ist und ich immer noch Angst habe, schaffe ich es nicht mehr meine Augen offen zu halten. Umhüllt von einer warmen Decke und dem Duft nach Pfefferminz und Vanille, schlafe ich ein.

Das letzte KapitelWhere stories live. Discover now