CHAPTER NINETEEN: Ins Auge des Sturms

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Am nächsten Morgen stehe ich schon sehr früh auf und trotz der Tatsache, dass ich wieder kaum geschlafen habe, fühle ich mich zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Hawkins ausgeruht. Das Gewitter vom Vortag ist zwar verschwunden, hat aber die dunklen Regenwolken zurückgelassen, die nun drückend über der Stadt schweben, als hätte man sie mit unsichtbaren Ketten daran gefesselt.

Seufzend schiebe ich die Vorhänge zusammen, stelle die Tasse mit dem mittlerweile kalt gewordenen Tee ab und öffne eine Schublade meines Nachtschranks. Ganz oben, unter Taschentüchern und einer Fernsehzeitschrift, liegt eine alte Taschenlampe. Einen Moment überlege ich, dann greife ich danach und stecke sie in meinen Rucksack, der fertig gepackt, an der Tür steht. Meine Gedanken kreisen um das, was Will gestern erzählt hat und so sehr ich es auch versuche, ich kann die Sorge nicht gänzlich abschütteln, die sich um mich gelegt hat, wie ein zu eng gewordenes Kleidungsstück. Gefühlt ein dutzend mal sind Dustin und Steve, am Vorabend, den Plan noch durchgegangen, welcher eigentlich gar keiner war, um dann am Ende zu dem Entschluss zu kommen, dass wir ja sowieso nicht wussten, was uns erwartet. Müde hatten wir das Thema fallen lassen und als ich schließlich ins Bett gefallen war, war es bereits nach Mitternacht gewesen.

Ich hebe meinen Blick, den ich nachdenklich auf meine Füße gerichtet habe, als das Licht von Scheinwerfern durch die dünnen Vorhänge fällt und das Zimmer erhellt.

Flüchtig spähe ich auf die Armbanduhr, die Robin mir mitgegeben hat. Pünktlich; beinahe auf die Minute genau, fährt Steve sein Auto auf den Parkplatz des Motels. Als ich einsteige, läuft leise Musik im Hintergrund und Dustin hat seine Hände in einer Chipstüte vergraben, die zwischen seinen Fingern knistert. Er grummelt mir ein verschlafenes »Guten Morgen« entgegen, bevor er sich noch eine Hand voll in den Mund steckt und sich die hellblauen Kopfhörer, die um seinen Nacken baumeln über die Ohren zieht. Bei seinem Anblick muss ich fast lachen. Auf Außenstehende würden wir wahrscheinlich wie eine Reisegruppe wirken, die einen Roadtrip geplant hat, aber die Situation ist so ernst, dass ich die aufkommende Belustigung herunter würge.

»Guten Morgen«, gebe ich stattdessen zurück, bin mir aber fast sicher, dass er mich so oder so, gar nicht mehr hören kann. Rauschend dringen die Klänge seines Walkmans zu mir hindurch, ehe der Wagen einen Satz nach vorne macht und der knirschende Kies unter den Reifen, diese vertreibt. Unweigerlich sehe ich zu Steve. Er hat sich umgezogen und trägt nun eine Jeans, einen dunkelgrauen Pullover und eine hellbraune Weste. Ich erkenne den Umriss einer Waffe, der sich unter dem Stoff abzeichnet und versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich das beunruhigt.

Für eine Sekunde löst er seinen Blick von der Straße und fängt meinen auf, ehe er wieder durch die Windschutzscheibe sieht. »Machst du dir Sorgen?«, fragt er.

»Ein bisschen«, gebe ich zu. Ich verschränke meine Finger. »Machst du dir keine?«

»Ich weiß nicht, wann ich mir das letzte Mal keine gemacht habe, also -« Er zuckt flüchtig mit den Schultern.

In seiner Stimme erkenne ich die selbe Unsicherheit, die sich auch in mir breit gemacht hat. Ich seufze leise. »Glaub mir, ich weiß genau was du meinst.«

Steve lenkt den Wagen um die nächste Kurve und ich sehe das Schild der Hawkins High in der Ferne. Wieder sieht er kurz zu mir, bevor er zu sprechen beginnt. »Danke, dass du dich gemeldet hast ihn zu begleiten.« Sein Blick wandert zum Rückspiegel, wo er einen kurzen Moment Dustin beobachtet, ehe er wieder auf die Straße sieht. »Ich habe wirklich keine Ahnung wieso dieser Junge immer bei allem ganz vorne mit dabei sein muss.«

Ich muss lachen. »Du doch auch, oder?«

»Hm?«

»Ich kenne dich noch nicht besonders lange, aber du hast dich seitdem auch noch von keiner Gefahr ferngehalten«, sage ich.

Steves Mundwinkel zucken. »Da haben wir wohl alle was gemeinsam.«

Ein kleines Lächeln umspielt meine Lippen, als ich sage: »Sieht ganz so aus.«

Ich habe gerade ausgesprochen, da lehnt Dustin sich nach vorne. Er hat seine Kopfhörer abgenommen und die Chipstüte beiseite gelegt. »Scheiße«, murmelt er atemlos. »Will hat nicht übertrieben.«

Als ich in die Richtung blicke, in die auch Dustin starrt, stockt mir für einen kurzen Moment der Atem. Ich erinnere mich an die Nacht, als ich mich das erste Mal zum Labor aufgemacht habe. Die leblosen Bäume, das dunkle, verdorrte Gras und die graue Erde haben sich nur all zu lebhaft in meinem Gedächtnis festgesetzt. Damals im Dunkeln, im Schutze der Nacht, hatte es alles nur wesentlich weniger bedrohlich gewirkt. Das Bild, welches sich mir nun bietet, hat kaum noch etwas damit zu tun. Dort, wo noch vor wenigen Tagen, das Hilfslager für Verletzte; das Lager für Waffen und sämtliche Versorgungsutensilien gewesen sind, ist von all dem kaum noch etwas übrig. Es stehen keine Autos auf dem großen Parkplatz und hinter den Fenstern brennt nicht eine einzige Lampe. Die Dächer und der Boden sind von einer weißen, undurchsichtigen Schicht bedeckt, die mich den ersten Moment, an Staub erinnert. Weiße Partikel fallen in Flocken vom Himmel herab, wie Asche, die man durch die Gegend pustet.

»Das sieht nicht gut aus«, höre ich Steve neben mir sagen, aber ich kann meinen Blick nicht von dem abwenden, was sich so bedrohlich vor uns aufbaut. Am Horizont kann ich in unregelmäßigen Abständen rote Blitze über den Himmel zucken sehen. Mein Herz macht einen Satz, als wir in gedrosseltem Tempo weiter an die Schule heran fahren und schließlich stehen bleiben. Tief einatmend schnappe ich mir meinen Rucksack, den ich mir zwischen die Füße geklemmt habe und öffne die Tür. Dustin ist bereits im Begriff auszusteigen und Steve tut es uns gleich.

»Nur um das nochmal klar zu stellen, Dustin -«, setzt er an, doch er wird genervt unterbrochen.

»Schon klar. Keine Alleingänge.«

»Und?«

Dustin verdreht die Augen. »Nichts unüberlegtes tun, auch nicht, wenn es mir ungefährlich vorkommt.«

Steve nickt zufrieden. »Ich will uns an einem Stück wieder zurück kriegen, damit das klar ist«, mahnt er, ehe er sich seinen Autoschlüssel in die Tasche steckt und mit einem Kopfnicken in Richtung der Schule deutet. »Dann mal los.«

»Dann los«, wiederhole ich leise; so leise, dass nur ich es hören kann.

Ich folge Steve und Dustin in einem kleinen Abstand über die Straße. In der Ferne höre ich das Echo eines Donnerschlags durch die Stadt ziehen, gefolgt von einem weiteren Geräusch, welches ich nicht zuordnen kann. Es klingt kreischend, wie ein aufgebrachtes, geschundenes Tier. Mir wird schlecht und als ich zu den anderen beiden blicke, sehe ich auf ihren Gesichtern etwas, was in mir nur noch mehr Unruhe auslöst. Es ist eine Mischung aus Erkenntnis und Angst. Der Ausdruck bleibt dort, als hätte man ihn mit einem wasserfesten Stift auf ihre Gesichter gezeichnet. Ein Seufzen steigt mir die Kehle hinauf, als wir den Parkplatz der Schule erreichen und es kostet mich alle Mühe, ruhig zu bleiben.

Einen kurzen Moment denke ich, dass wir in die Schule hinein gehen, dann führt Steve uns an dem Gebäude vorbei. Wir lassen den Sportplatz; die Cafeteria und den Rest des Gebäudekomplexes hinter uns und gehen mitten auf das zu, was Will uns gestern noch mit düsteren Worten beschrieben hat und was nun zur bitteren Realität wird. Eine Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen und kriecht mir über den Körper. Mitten hinein; ins Auge des Sturms, schießt es mir durch den Kopf, aber ich weiß, dass, wenn wir das alles hier nicht aufhalten können – wenn wir Vecna nicht aufhalten können, noch viel schlimmeres vor uns liegen wird.

Und deshalb – nur deshalb – folge ich ihnen, den Blick auf den von roten Blitzen gefärbten Horizont gerichtet und das Herz so schnell schlagend, als würde das schnellste einen Preis gewinnen.

Das letzte KapitelOnde histórias criam vida. Descubra agora