CHAPTER FOUR: Aufgabenverteilung

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Robin führt mich eine ganze Weile den selben Weg zurück, den ich am Vormittag gegangen bin. Die Dämmerung schreitet weiter voran und als ich flüchtig einen Blick in den Himmel werfe, kann ich vereinzelte Sterne aufblitzen sehen. Es ist ein friedlicher Anblick und bildet einen merkwürdigen Kontrast zu dem Chaos, welches in Hawkins eingezogen und in jedem noch so kleinen Spalt zu spüren ist. Auf dem Weg erklärt Robin mir, dass die meisten Verletzten vom Erdbeben bereits außerhalb der Stadt in Krankenhäusern unterbracht worden sind, aber die Notlager für Verletzte, sind dennoch weiterhin vorhanden.

»Die Aufräumarbeiten sind mühselig«, klärt sie mich auf, während wir den Parkplatz der Hawkins Highschool betreten und ihn mit schnellen Schritten nebeneinander überqueren. »Es gibt immer wieder kleine Unfälle und das Krankenhaus ist weiterhin kaum zu betreten, deshalb kommen die Verletzten weiterhin hierher. Wir haben nicht viele Krankenpfleger, aber jeder hilft wo er kann. Es ist schon besser geworden, seitdem es nur kleine Verletzungen sind. Am Anfang war es heftig.«

Wir gehen um das Gebäude herum und betreten durch eine große Flügeltür am hinteren Teil die Schule. Es riecht nach Desinfektionsmittel, gekochter Suppe und Schweiß. Ich rümpfe die Nase, so beißend ist der Anteil von Ethanol, der in der Luft liegt, bleibe aber nicht stehen. Entschlossen folge ich Robin den Gang hinunter und nur wenig später stehen wir in der großen Sporthalle, in der Freude und Adrenalin, die wohl früher allgegenwärtig gewesen sind, abgelöst worden sind von Leid und Zerstörung. Gleich auf den ersten Blick fallen mir die Feldbetten auf, die an der hinteren Ecke aufgestellt sind. Gelbliche, zerschlissene Vorhänge trennen die einzelnen Liegen voneinander. Sie schaffen kaum Privatsphäre, verhindern aber immerhin, dass sich die Verletzten gegenseitig nicht sehen können. Ein Mann sitzt auf einer von ihnen. Er hat sein Oberteil ausgezogen und auf seiner nackten Brust sickert Blut aus einer Schnittwunde. Mein Herz macht einen Satz und ich wende den Blick ab.

»Da vorne ist der Essbereich. Es ist provisorisch, aber erfüllt seinen Zweck.« Robin dreht mich am Arm in die andere Richtung und deutet auf einen Tresen und etwas, was wie eine kleine Mensa aussieht. Es sind zusammengewürfelte Tische, an denen vereinzelt Jemand sitzt und isst, aber im Großen und Ganzen laufen die meisten wirr durcheinander.

»Es ist viel los«, stelle ich fest und kann den überraschten Klang in meiner Stimme nicht verbergen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass so viele Menschen hier sind, schon gar nicht, weil es draußen bereits dunkel geworden ist. Es sind mindestens drei dutzend Helfer.

Robin seufzt. »So sieht es aus, oder? In Wahrheit sind wir viel zu wenige um die Stadt wieder hin zu bekommen.« Sie sieht traurig aus; so sehr, dass ich sie am liebsten umarmen würde.

Ich komme mir augenblicklich dumm vor und werfe ihr von der Seite einen entschuldigenden Blick zu. »Tut mir leid. So hab ich das nicht gemeint. Ich hab nur irgendwie gedacht, dass kaum noch Jemand in der Stadt ist. Die Bilder im Fernsehen ...«

»Schon in Ordnung« Robin schenkt mir ein Lächeln, aber sie sieht nicht glücklich aus. »Lass uns zu den Anderen gehen und dann besprechen wir was du tun kannst, ja?«

Mein schlechtes Gewissen verschwindet nicht. Ich folge ihr schweigend und wir kommen an einer Pinnwand vorbei, auf der mich das Wort Vermisst in unzähliger Form anspringt und bei mir eine Gänsehaut verursacht. So viele Menschen, so viele schreckliche Verluste. Es fällt mir schwer das Gefühl auszuhalten, welches in meiner Brust aufflammt und ich bin dankbar, als wir dort nicht stehen bleiben, sondern zu einem weiteren großen Tisch gehen, hinter dem ich Dustin, Steve und ein weiteres Mädchen entdecke. Sie hat dunkelblonde Locken, die sie mit einem Haarband nach hinten gezwungen hat.

»Ich hab jemanden mitgebracht«, ruft Robin schon, bevor wir überhaupt ganz bei ihnen angekommen sind und augenblicklich sehen die drei auf. Dustin sieht beinahe erschrocken aus, aber Steve grinst in meine Richtung.

»Sieh mal einer an. Megan«, sagt er freundlich.

Ich zwinge mich dazu das düstere Gefühl zu verscheuchen, welches mir immer noch nachjagt und erwidere sein Lächeln. »Hi Steve.« Wir haben in der Nacht, als sie mich zu meinem Motel zurück gebracht haben nur wenig miteinander gesprochen. Ich wollte keine Fragen über mich oder meine Vergangenheit beantworten; konnte es nicht und obwohl Steve mehrmals etwas über mich gefragt hatte, bin ich ihm mehr oder weniger ausgewichen, was zwar unfreundlich, aber für mein Leben, vielleicht sogar Überleben hier zwingend notwendig war. Anscheinend aber, das erkenne ich an seinem freundlichen Unterton, hat er mir das nicht übel genommen.

Ich komme nicht in die Bredouille erneut seinen Fragen ausweichen zu müssen, denn Robin befördert mich mit einem leichten Ziehen am Arm herum, sodass ich direkt dem anderen Mädchen entgegen blicke.

»Ich bin Nancy. Hey«, stellt diese sich genau in diesem Moment vor. Sie streckt mir eine Hand entgegen, die ich kurz drücke.

»Megan«, sage ich, trotz der Tatsache, dass Steve meinen Namen bereits laut erwähnt hat, unnötigerweise.

»Ich hab schon von dir gehört«, erwidert Nancy. Sie macht auf mich einen freundlichen, wenn auch zurückhaltenden Eindruck.

»Nicht so viel, denn wir wissen ja kaum etwas über dich.«

Dustin steht einige Zentimeter hinter Steve und blickt mich misstrauisch an. Sein Blick ist nicht böse, aber ich kann an seinen Worten deutlich hören, dass er besorgt ist. Meine Anwesenheit verunsichert ihn aus irgendeinem Grund und obwohl ich am liebsten fragen würde, tue ich so, als würde ich von all dem nichts bemerken. Mich überkommt für einen kurzen Moment das Gefühl, dass hier etwas Größeres vor sich geht und die Vermutung, welche mich überhaupt in diese Stadt zurück geführt hat; nämlich, dass zwischen all den Geschichten dieser Stadt etwas wahres steckt, flammt erneut in mir auf. Ich unterdrücke den unfassbaren Impuls nachzubohren.

»Über mich gibt es nicht besonders viel zu wissen«, sage ich und versuche meine Stimme gleichgültig klingen zu lassen. »Robin hat gesagt, dass ihr Hilfe gebrauchen könnt.«

Ich sehe, wie Dustin ihr einen vorwurfsvollen Blick zuwirft. »Großartig«, murmelt er so leise, dass ich ihn kaum verstehen kann. Noch ehe jemand etwas sagen kann, dreht er sich um und ist verschwunden. Einen Moment lang blicke ich ihm hinterher.

»Nimm es ihm nicht übel. Er hat viel durchgemacht. Neue Menschen sind wohl das letzte, was er momentan gebrauchen kann.« Steve stützt sich mit den Händen auf dem Tisch ab, hinter dem er steht und schwingt sich mit einem Satz darüber hinweg, sodass er direkt zwischen mir und Robin steht. »Nichts desto trotz wissen wir dein Angebot sehr zu schätzen. Darf ich also bitten?« Er macht einen leichten Knicks und nickt mit dem Kopf in Richtung einer Straßenkarte, die ausgebreitet an einer weiteren Pinnwand steckt. Mit bunten Stiften sind mehrere Kreuze darauf eingezeichnet.

Konzentriert kneife ich die Augen zusammen um besser sehen zu können, als Steve schon anfängt zu erklären. »Grüne Kreuze: Bereits gesichertes Gebiet. Gelbe: Unbedingt noch zu untersuchen. Rotes Kreuz: Sperrzone, was wiederum bedeutet und das meine neue Helferin, ist absolut wichtig: „Betreten verboten."«

Ich folge seinem Finger, als er die verschiedenen Gebiete mit einer lässigen Bewegung seiner linken Hand einkreist und sich mit der anderen durch seine vollen Haare fährt. »Wieso?«, frage ich.

Steve kommt ins Straucheln. »Was meinst du mit „Wieso?"«

»Wieso sind die Gebiete gesperrt? Was ist dort?« Es ist mir nicht entgangen, dass dort wo das Labor sich befindet, das größte Kreuz in knallrot auf der Karte prunkt.

Er zieht eine Augenbraue hoch. »Sagen wir einfach, dass das keine Orte sind, an denen sich ein so junger und lebendiger Mensch aufhalten sollte.«

Mir entgeht nicht, dass trotz dem Schalk in seinen Worten, eine Ernsthaftigkeit in seiner Stimme mitschwingt, die mit den Erinnerungen in meinem Kopf kollidiert und einen faden Beigeschmack auf meiner Zunge hinterlässt.

»Ooook, genug geplaudert«, unterbricht Robin unser Gespräch. Sie sieht zwischen mir und Steve hin und her. »So gerne ich auch weiterhin euren zarten Stimmen lauschen würde. Es spät und ich bin müde, also lasst uns Megan eine Aufgabe zuteilen und dann fahren wir nach Hause.«

Bei ihren Worten sehe ich mich um. Tatsächlich sind außer uns kaum noch Menschen da. Ich habe gar nicht bemerkt wie sie nacheinander die Sporthalle verlassen haben, aber jetzt bemerke ich die Stille, die sich über die Halle gelegt hat.

»Megan«, sie wendet sich an mich. »Du hast die Qual der Wahl: Entweder du verteilst hier morgen Essen, mit mir und Lucas. Oder und das ist wesentlich gefährlicher: Du gehst eines der Gebiete absuchen, die noch übrig sind mit Nancy und Steve.«

An ihrer Stimme kann ich erkennen, dass die zweite Option viel mehr als Witz gemeint ist, weshalb sie fast schon entsetzt eine Grimasse zieht, als ich mich genau dafür entscheide.

»Das meinst du nicht Ernst, oder?«, fragt sie ungläubig. Sie sieht hilfesuchend zu Steve, der ihren Blick genauso fassungslos erwidert.

»Das solltest du nicht. Es ist wirklich gefährlich. Das Erdbeben -«

Ich hebe eine Hand um sie zu unterbrechen. »Wann geht es los?«

Das letzte KapitelWhere stories live. Discover now