CHAPTER TWENTYONE: Die Flügel eines Kolibris

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»Megan! Hast du mich überhaupt gehört?«

Eine leise, amüsierte Frauenstimme dringt an meine Ohren und reißt mich aus meinen Tagträumen. Einen Moment betrachte ich mein Spiegelbild in der Scheibe des Autos, dann kehre ich zurück ins Innere des Wagens. Die Frau die neben mir sitzt, hat den Mund zu einem Lächeln verzogen, weshalb die Falten um ihre hellblauen Augen noch tiefer wirken. Ihre grauen Haare sind streng nach hinten gebunden, aber ihr Gesicht strahlt so viel Wärme aus, dass ich mich, nach sehr langer Zeit wieder, völlig sicher und geborgen fühle.

Ich erwidere ihr Lächeln. »Entschuldige«, murmle ich verschämt, obwohl ich weiß, dass sie es mir eigentlich gar nicht übel nimmt.

»Mädchen, Mädchen.« Sie streckt eine Hand aus und streicht mir, in einer zärtlichen Geste, eine meiner Locken zurück. Ich schließe die Augen, als ihre Finger meine Wange streifen und atme ihren Duft ein. Vanille und Pfefferminz. »Wo bist du nur immer mit deinen Gedanken?«


Einen Moment genieße ich die mütterliche Berührung, dann öffne ich meine Augen und das Lächeln, welches sich auf meinem Gesicht ausgebreitet hat, gefriert zu Eis. Ein Schrei entweicht meiner Kehle, als ich die langen Klauen sehe, die sich bedrohlich nach mir ausgestreckt haben und mir nun in einer fließenden Bewegung durch die Haare streichen, ehe sie zurückgezogen werden. Von einer unsichtbaren Kraft gezwungen reißen die Sicherheitsgurte und ich merke wie mein Kopf nach hinten verdreht wird, während gleichzeitig ein reißender, fürchterlicher Schmerz durch meine Gliedmaßen zuckt. Nach und nach spüre ich, wie jedes einzelne Gelenk durchbricht, als wären sie nichts weiter, als dünne, morsche Äste.


Keuchend fahre ich hoch.

Ich strecke meine Arme von mir und bewege jeden einzelnen meiner Finger, dann tue ich das gleiche mit meinen Beinen und schließlich nicke ich mit dem Kopf. Ein Echo des Schmerzes von eben hallt noch durch mein Bewusstsein.

Ein Traum, nur ein Traum.

Ich blinzle und sehe mich um. Es ist noch dunkler als vorhin. Hinter mir höre ich das leise Schnarchen von Dustin, der eingerollt wie ein kleines Baby auf dem Sofa schlummert, an welchem ich immer noch lehne. Es dauert einen kurzen Moment bis meine Orientierung zurückkehrt, dann erinnere ich mich an das Gespräch von vorhin und an die Entscheidung vorerst hier zu bleiben; zumindest so lange, wie das bestialische Kreischen der Fledermäuse noch zu hören ist und durch die Dunkelheit der Nacht schallt. Mit der düsteren Erinnerung daran, tauchen auch die Bilder von eben wieder auf.

Nur ein wirklich schlechter Traum.

Mein Blick wandert durch das leblose Zimmer. Durch das zersprungene Fenster strömt ein eisiger Luftzug herein und die Vorhänge reißen so stark an den Gardinenstangen, dass sie den Eindruck erwecken, als würden sie flüchten wollen. An der Zimmertür, auf einer ausgebreiteten Decke, sitzt Steve. Er hat seine Taschenlampe so auf den Boden gelegt, dass sie an die Decke scheint und die Umgebung um ihn herum in ein schwaches, warmes Licht taucht. Im leichten Lichtschein kann ich sein Gesicht sehen und einen winzigen Moment lang, verharrt mein Blick auf ihm. Dann stehe ich auf und gehe zu ihm. Als ich mich neben ihn sinken lasse, sieht er auf. Zwischen seinen Beinen liegt eine Karte von Hawkins und ein Stift. An einer Stelle ist ein Kreuz eingezeichnet und als ich genauer hinsehe, erkenne ich, dass es unser aktueller Standort sein muss. Wir sind eine ganze Ecke von der Schule entfernt.

»Was tust du da?«, frage ich und deute mit einem Kopfnicken auf das Stück Papier.

»Ich überlege wie wir am sichersten von hier verschwinden«, antwortet er leise. Seine Stimme klingt rau vor Müdigkeit. »Den Weg zurück zur Schule zu nehmen wäre völlig verrückt. Wir würden genau auf den Ort zurennen, von wo die Fledermäuse gekommen sind.«

Wie von selbst ziehe ich, bei dem Gedanken daran, eine Grimasse. Auf keinen Fall.

Steve leckt sich konzentriert über die Lippen, als er das Papier ein Stück zu mir schiebt. »Erinnerst du dich noch an die Karte an der Pinnwand? In der Schule, als Robin dich mit zu uns gebracht hat? Die Farben? Grün, gelb, rot.«

Ich nicke.

»Zur Schule zurück, sollten wir also nicht gehen, aber wenn wir hier lang gehen -« Er fährt mit dem Finger eine eingezeichnete Linie entlang. »Dann kommen wir direkt in die roten Gebiete und das wäre wahrscheinlich -«

»- genauso wahnsinnig«, beende ich seinen Satz.

Steve seufzt. »Ganz genau.«

»Heißt also, wir sitzen hier fest?«

»Bis uns etwas besseres einfällt.« Er nickt.

Einen Moment starre ich noch auf die Karte und versuche einen Ausweg zu finden, dann gebe ich es vorerst auf. Mein Kopf tut weh und die Bilder meines Albtraumes hallen noch vor meinem inneren Auge nach, als würden sie mich verspotten wollen. Seufzend lege ich den Kopf in den Nacken.

»Du hast schon wieder schlecht geschlafen.«

Steves flüsternde Worte klingen nicht aufdringlich oder neugierig, aber ich zucke dennoch zusammen, als hätte man mich bei etwas verbotenem ertappt.

»Wie bitte?« Verwirrt blinzle ich ihn an.

»Vorhin«, erklärt er ruhig. Er sieht mich eindringlich an. »Du bist völlig panisch hochgeschreckt.«

Kurz überlege ich ob ich das Thema wechseln soll, dann entscheide ich mich dagegen. »Albtraum«, gebe ich schulterzuckend zurück, als wäre absolut gar nichts dabei.

»Hast du immer Albträume?«

Ich denke an den Tag, als wir zusammen im Motel waren und ich ihm fast wortwörtlich die gleiche Antwort gegeben habe. Bei dem Gedanken daran huscht ein kurzes Lächeln über mein Gesicht. »Man gewöhnt sich daran«, antworte ich leise.

»Willst du darüber reden?«

Ich schüttle den Kopf. »Aber darf ich dich was fragen?«

Steve zieht eine Augenbraue hoch und legt den Kopf schief. »Oh, oh, was kommt jetzt?«, scherzt er, aber als er meinen ernsten Gesichtsausdruck sieht, verändert sich sein Blick und er nickt.

»Vorhin«, fange ich an, halte aber inne, weil ich nicht sicher bin ob ich die richtigen Worte finde. Einige Augenblicke denke ich angestrengt nach, dann seufze ich und fahre fort. »Als wir hier angekommen sind. Dustin. Ich weiß auch nicht, wir standen wohl alle ein wenig unter Schock, aber ich hatte das Gefühl, dass -« Vorsichtig schiele ich über meine Schulter zu Dustin. »- dass irgendwas an dem was passiert ist, ihn besonders getroffen hat?«

Steve fährt sich mit einer Hand durch die Haare und überlegt. Ich sehe, dass er ebenfalls mit den richtigen Worten ringt, dann sieht er mich direkt an. Sein Blick ist weich und gleichzeitig traurig. Erneut kribbelt es in meinen Fingerspitzen; dieses Mal allerdings, weil das Bedürfnis in mir aufsteigt, tröstend eine Hand nach ihm auszustrecken. Als er zu sprechen beginnt, atme ich erleichtert aus.

»Jemand von uns ist gestorben«, flüstert er, als würde es weniger schwer sein, wenn er die Worte nur leise genug ausspricht. Seine Stimme zittert leicht. »Eddie. Dustin und er; sie standen sich nahe. Er war dabei, als es passiert ist. Ich glaube, dass er darüber wohl nie hinwegkommen wird und die Viecher vorhin – die Fledermäuse – sie haben Eddie getötet. Das hat einiges in ihm hochgeholt.«

Stille kehrt ein. Erst als er ausgesprochen hat, merke ich, dass ich nicht atme. Ich schnappe nach Luft und fühle mich schrecklich, weil ich ihn danach gefragt habe. »Steve«, hauche ich leise. »Es tut mir so leid. Ich wollte nicht-«

»Schon gut«, unterbricht er mich. Er lächelt mich an, aber auf seinem Gesicht ist nichts fröhliches zu erkennen. Der leichte Funken von Traurigkeit, der eben noch in seinem Blick gelegen hat, ist einem hilflosen gewichen. »Du kannst ja nichts dafür.«

»Nein«, sage ich. »Aber ich hätte nicht fragen sollen.«

»Das macht nichts, Megan, wirklich.« Er zuckt mit den Schultern. »Ich wünschte nur, dass ich ihm ein bisschen von seiner Last nehmen könnte, weißt du?«

Die Müdigkeit, gemischt mit Trauer und Sorge, die in seiner Stimme und in seinem Gesicht zu erkennen ist, ist zu viel für meine Selbstbeherrschung. Ohne wirklich darüber nachzudenken, strecke ich meine Hand aus und lege sie auf seine. Als sich unsere Hände berühren und ich, mit einer leichten Bewegung über seine Haut streiche, sieht er auf und unsere Blicke treffen sich. Für einige wenige Sekunden sehen wir uns einfach nur an. Wärme steigt mir in die Wangen und mein Herz schlägt schneller. Wie die Flügel eines Kolibris flattert es in meiner Brust herum. Ich muss die Augenlider niederschlagen um wieder klar denken zu können.

Ich räuspere mich verlegen und gluckere ihm »Es tut mir leid, was ihr durchmachen musstet. Ihr alle« entgegen, weil mir absolut nichts besseres einfällt. Ich fühle mich wie ein kleines Kind.

Ihm scheint die Situation genauso zu verunsichern. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie er nickt und sich unbeholfen in den Nacken fasst, während er seinen Blick wieder auf die Karte vor sich richtet. »Danke«, erwidert er knapp.

Mein Gesicht glüht vor Verlegenheit und Aufregung. Ich weiß nicht, was genau gerade eben zwischen uns passiert ist, aber ich möchte auch nicht darüber nachdenken. Wir haben ganz andere Sorgen. Ich schiebe die Erinnerung an das Gefühl von meiner Hand auf seiner in die hinterste Ecke meines Kopfes und ziehe eine meterhohe Mauer empor, die sämtliche Gefühle deswegen, aussperren soll. Ein Seufzen verlässt meine Lippen, als ich meinen Blick ebenfalls wieder auf die Karte richte und angestrengt darauf starre, als würde das irgendwas daran ändern, dass mein Herz immer noch, viel zu schnell, durch meinen Brustkorb hüpft.

Das letzte KapitelWhere stories live. Discover now