CHAPTER FOURTEEN: Es war einmal

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Es ist Herbst.

Unzählige Blätter fallen in Gelb und Rottönen von den Bäumen und verbergen die Welt unter ihnen, wie unter einer bunten Kuscheldecke. Die Luft ist kühl, aber die Sonne scheint und hat noch genug Kraft um einen zu wärmen. Es sieht schön aus, wie sie durch die langsam kahler werdenden Bäume scheint und einen Moment lang, verliere ich mich beinahe in dem Anblick, dann werde ich entschlossen, aber mit einer gewissen Sanftheit, an meiner Hand weiter gezogen.

»Komm schon, Liebling«, raunt mir eine helle Stimme zu. Sie klingt kälter als sonst, nicht so friedlich, wie wenn sie mir Abends zum Einschlafen, fröhliche Lieder ins Ohr summt.


Meine kleinen Füße stapfen gehorsam neben ihr her und ich beobachte ihre Locken, die genauso aussehen wie meine und nun beim Laufen auf und ab hüpfen. Meine sind unter einer enganliegenden Mütze versteckt, damit ich nicht friere und ich frage mich ob sie wohl genauso aussehen würden, wenn ich diese einfach von meinem Kopf ziehen würde. Aus Angst Ärger zu bekommen tue ich es nicht, obwohl es mir in den Fingerspitzen juckt. Erst heute Morgen habe ich sie wütend gemacht, als ich den Kochtop mit heißem Wasser vom Herd gestoßen habe. Es war keine Absicht gewesen. Ich hatte nur darüber nachgedacht; mich einen Moment angestrengt mir vorzustellen wie er nach vorne rutscht und mit einem lauten Knall auf den Boden aufschlägt und noch ehe ich etwas hätte unternehmen können, war es auch schon passiert.

»Kannst du nicht aufpassen, Megan?«


Beinahe ängstlich hatte sie mich von der Seite angefahren. Ich frage mich ob sie deshalb immer noch so ernst aussieht, als wir nebeneinander durch das Laub eilen; ihre Hand, vielleicht etwas zu fest, um meine kalten Finger geschlungen.

*


»Können Sie mir sagen was vorgefallen ist?«

Ein Mann steht vor uns. Er ist Arzt, hat Mama mir erklärt. Er wird mir helfen. Wobei, habe ich nicht gefragt. Ich habe Angst vor Ärzten und als er näher heran tritt und eine Hand auf meinen Kopf legt, kann ich nicht anders, als zusammen zu zucken und Mama einen hilfesuchenden Blick zu zu werfen. Sie sieht nicht zu mir, sondern starrt den Mann an; in ihren Augen blitzen die Tränen.

»Sie tut Dinge«, sagt sie leise, als würde sie so verhindern können, dass ich sie höre. »Heute Morgen erst...«


*


Als wir das Büro des Arztes verlassen, ist es bereits dunkel draußen. Mama sieht traurig aus, aber sie weint nicht mehr. Den ganzen Weg und Zuhause sagt sie nichts. Erst als ich in meinem Bett liege und sie die Decke über mich zieht, sieht sie mich wieder an.

»Schlaf gut, Kleines«, haucht sie, als sie sich nach vorne beugt und mit ihren Lippen über meine Stirn streicht. Ihr Atem kitzelt mich und ich muss kichern. Ich schlinge meine dünnen Arme um sie.

»Bist du traurig, Mama?«, murmle ich. »Wegen mir?«

»Nein, Liebling. Es wird alles wieder gut.«


*


Wochen später bin ich Abends nicht mehr in meinem Bett, sondern liege in einem gefliesten Zimmer. Ich beobachte das rote, blinkende Licht einer Kamera. Die ganze Nacht starre ich darauf und warte, dass Mama mich wieder holt, doch sie kommt nicht. Nicht diesen Abend und keinen danach. An irgendeinem Morgen, nach einer weiteren Nacht, in der ich kaum geschlafen habe, werde ich in ein Zimmer geführt, welches ich noch nicht kenne. Ein bunter Regenbogen zieht sich an der Wand entlang.


*


»Hallo? Megan? Kannst du uns hören?«

Robin steht vor mir und wedelt mit ihren dünnen Fingern vor meinem Gesicht herum. Sie sieht besorgt aus und ich kann es ihr nicht verübeln. Wahrscheinlich wirke ich auf sie wie eine Verrückte; als hätte ich meinen Verstand verloren. Vielleicht machen sie sich auch Sorgen darüber, was wohl meine Reaktion auf das Ganze sein wird. Einen Moment lang habe ich Angst, dass sie sich wieder vor mir fürchten, dann packt sie mich unsanft an der Schulter und schüttelt mich. Die Bilder meiner Erinnerungen werden in meinem Kopf durcheinander geworfen. Es sind die letzten, die ich an mein Leben vor dem Labor habe und die ersten daran, als ich dort angekommen bin. Nein, Liebling. Alles wird wieder gut. Ich höre die Worte meiner Mutter noch so deutlich, als würden wir immer noch in meinem damaligen Kinderzimmer sitzen und der Schmerz kehrt kurz mit der selben Stärke zurück, wie damals, als ich gemerkt habe, dass sie mich nicht wieder abholen wird. Entschlossen schiebe ich ihn beiseite und zwinge mich dazu in die Hütte zurück zu kommen. Zurück zu Robin, die mich immer noch anstarrt und zurück zu Nummer Elf, oder Elfie, wie sie hier genannt zu werden scheint.

»Mal ehrlich, Megan, sag bitte was! Du siehst aus als würdest du gleich ohnmächtig werden. Oder?« Sie sieht zu Steve und Dustin, die mich ebenfalls mustern.

Dustin zieht die Schultern hoch. »Sie ist ziemlich bleich. Vielleicht sollten wir einen Sessel hinter sie schieben, oder so. Nur zur Vorsicht«, schlägt er vor.

»Na klar, gute Idee, Henderson!« Steve verdreht die Augen und kommt einen Schritt auf mich zu. »Megan, brauchst du irgendwas? Ein Wasser vielleicht?«

»Ein Wasser?« Dustin schnaubt. »Das ist natürlich besser, was? Ich glaub, sie steht unter Schock.«

»Kein Wunder. Ich hab gleich gesagt, dass wir das anders angehen sollen!«, höre ich Robin einwerfen.

Ich schlucke geräuschvoll. »Mir geht's gut«, presse ich hervor. Mein Kiefer ist angespannt, weshalb es seltsam klingt, aber sie scheinen davon keine Notiz zu nehmen. Es reicht ihnen offensichtlich, dass ich überhaupt etwas sage und einen kurzen Moment frage ich mich, wie lange ich einfach nur dagestanden bin; in meinen Erinnerungen versunken und ausdruckslos nach vorne starrend.

»Gott sei Dank!« Robin atmet erleichtert aus und legt mir einen Arm auf die Schulter. In der Richtung wo sie steht, hat vor ein paar Momentan noch Elfie gestanden, aber nun ist sie weg und ich blicke mich suchend in der Hütte um. Fragend ziehe ich eine Augenbraue hoch, als ich sie nirgends entdecken kann.

»Wo ist sie?«

Sie wissen natürlich sofort wen ich meine.

»Wir haben gedacht, dass es vielleicht besser ist, wenn sie erst mal raus geht«, erklärt Robin mir. »Keine Sorge, sie ist nicht weit weg.«

»Ich möchte mit ihr sprechen.«

Ich sehe wie die drei, die noch mit mir in der Hütte anwesend sind, verheißungsvolle Blicke austauschen. Einen Moment scheinen sie nicht so richtig zu wissen, was sie tun sollen, dann nickt Dustin. »Ich hole sie.«

Er verlässt die Hütte mit schnellen Schritten. Ich atme tief durch und wappne mich für die erneute Begegnung mit Elf und dem Gespräch, welches folgen wird. Es kommt mir vor, als würde kaum eine Sekunde vergehen, da tritt sie hinter Dustin, gefolgt von Nancy, Lucas und einem weiteren Jungen den Raum. Mike. Ich erinnere mich daran, dass er in den Gedanken von Nancy aufgetaucht ist, an dem Tag, als der Angriff stattgefunden hat. Er stellt sich mir nicht vor, was ich ihm aber auch nicht übel nehme. Statt mich anzusehen, liegt sein Blick auf Elfie; in ihm erkenne ich aufrichtige Sorge. Sein Arm hängt locker an der Seite seines schlaksigen Körpers herunter, doch als sie einen großen Schritt auf mich zu geht, zuckt seine Hand nach vorne, als würde er darüber nachdenken, sie zurück zu halten. Sie scheint davon keine Notiz zu nehmen, denn sie überwindet den Abstand zwischen uns so schnell, dass ich mich zusammen reißen muss, nicht vor ihr zurück zu weichen. Sie wird mir nichts tun, da bin ich mir aus irgendeinem Grund sicher, aber dennoch macht mich ihr Anblick nervös.

»Hallo«, sagt sie leise, als sie beinahe direkt vor mir steht. Sie sieht mich eindringlich an und obwohl ihr Blick direkt meinen trifft, ist es nicht unangenehm. Auf eine gewisse Weise kommt es mir so vor, als würde ich sie kennen, auch wenn mir ihr Gesicht nicht wirklich vertraut ist.

»Hallo«, erwidere ich ebenfalls. Meine Stimme zittert unmerklich. »Meine Reaktion vorhin, tut mir leid. Ich war -« Ich suche nach den richtigen Worten. »- überrascht.«

»Schon gut.«

»Ich glaube, dass wir uns nicht kennen.«

Elfie sieht mich mit schief gelegten Kopf an. »Nein, ich glaube nicht«, murmelt sie monoton. Sie greift nach meinem Arm und dreht ihn herum, sodass sie auf mein Tattoo sehen kann. »Du bist Vier.«

»Ich -« Es fühlt sich merkwürdig an wieder so genannt zu werden. »Ich bin Megan«, korrigiere ich beinahe unbewusst und lasse meinen Arm sinken.

Sie nickt kurz.

»Was machst du noch hier?«, frage ich sie vorsichtig. Ich weiß nicht wie ich das Gespräch anfangen soll, bin mir aber fast sicher, dass sie es nicht tun wird. Kurz schaue ich zu den anderen und sehe, dass sie uns alle anstarren. Ich unterdrücke ein Seufzen.

»Ich lebe in Hawkins«, entgegnet Elfie knapp. Sie ist wortkarger, als ich gedacht habe.

»Das Labor...« Ich zögere um abzuschätzen, wie sie darauf reagiert. Sie verzieht keine Miene. »Es ist zerstört. Ich hab es gesehen.«

Sie nickt. »Du warst nicht dort, als ich dort gelebt habe, oder? Papa hat gesagt, dass ein paar von uns nicht mehr da sind, aber bei Eins hat er gelogen.«

Beim Gedanken an Papa zucke ich kurz zusammen, dann zwinge ich mich dazu, ruhig zu bleiben. »Ich war immer dort, viele Jahre, aber ich war nicht mit den anderen zusammen. Am Ende nicht mehr. Man hat mich nicht oft aus dem Zimmer gelassen und wenn dann nur für...« Wieder fehlen mir die richtigen Worte und obendrein bin ich nicht sicher, wie viel von dem was mir passiert ist, auch ihr widerfahren ist. »nur für den Unterricht«, sage ich schließlich, auch wenn das nicht einmal annähernd an die Wahrheit heran kommt. Fürs erste reicht das.

»Hat er dir weh getan?«

Ich bin auf die Frage nicht vorbereitet und kann nicht verhindern, dass mein Herz einen Satz macht und danach beinahe doppelt so schnell in meiner Brust weiter zu schlagen scheint. Ich sehe zu den anderen, die so aussehen, als würden sie angespannt die Luft anhalten. Dieses Mal kann ich das Seufzen nicht zurück halten, welches meine Lippen verlässt. Ich nicke.

»Er war ein böser Mensch,« stellt Elfie fest. Sie fährt mit den Fingern an ihrem Handgelenk entlang. »Tut mir leid, dass er dir weh getan hat.«

»Danke«, sage ich. Ich bin überrascht von ihrer Reaktion, aber trotz der Tatsache, dass auch beinahe etwas wie Rührung in mir auflodert, entgeht mir etwas an ihren Worten nicht. Fragend lege ich meine Stirn in Falten. »Du sagst er war ein böser Mensch. Ist er - ? «

»Tot?«, unterbricht sie mich und sieht mich einen Augenblick lang prüfend an, dann hebt sich ihr Kopf zu einem Nicken. »Ja.«

Ich kann nicht verhindern, dass ich erleichtert bin. So oft habe ich in Gedanken den Moment durchgespielt, wenn ich Papa noch einmal über den Weg laufe. Ihn sehen und ihn sprechen hören müsste. Nichts davon würde geschehen. Bis zu diesem Moment wusste ich selbst nicht, wie viel mir das bedeuten würde. Ich atme lautstark aus und habe das Gefühl, dass eine riesige Last von meinen Schultern fällt. Plötzlich kommt mir die ganze Situation hier viel weniger bedrohlich vor; viel weniger überwindbar. Alles fühlt sich irgendwie leichter an und ich muss den Drang unterdrücken, laut auf zu lachen. Als ich nun den Blick über die Gruppe von Menschen wandern lasse, die hier mit mir stehen, fühle ich zum ersten Mal wieder Hoffnung. Ich streckte die Schultern durch und merke, dass ich bereit bin über all das zu reden, was ich damals erleben musste.

»Ihr solltet alles wissen«, beginne ich, lasse es mir aber nicht nehmen auch noch daran zu erinnern, dass ich ebenfalls Informationen brauche. »Und dann habe ich auch einige Fragen an euch, wenn es für euch in Ordnung ist.« Zuerst liegt mein Blick auf Elfie, dann sehe ich zu Dustin.

Er nickt langsam.

Und dann beginne ich zu erzählen. Die Worte sprudeln nur so aus mir heraus. Ich erzähle ihnen alles. Von meiner Mutter; dem ersten Abend im Labor; dem Unterricht und der Folter. Von Elektroschocks und Monstern, von all dem Blut, den Schmerzen und von Papa. Überall, in jeder Ecke, ist er; den stechenden Blick auf uns liegend und unheilvoll eine Hand über uns ausgestreckt, als hätte er irgendein Anrecht auf unser Leben. Ich erzähle ihnen von meiner Flucht; der Nacht, als ich mein altes Leben hinter mir gelassen habe und höre erst auf, als ich an dem Abend ankomme, als ich ihnen begegnet bin.

Das letzte KapitelWhere stories live. Discover now