CHAPTER FIVE: Das gelbe Gebiet

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Am nächsten Morgen stehe ich schon eine halbe Stunde zu früh vor der Highschool. Die Sonne ist gerade am aufgehen und die Luft ist so kühl, dass ich mir die Kapuze meines Pullovers über den Kopf ziehe und mein Gesicht im Kragen verberge. Die Nacht zuvor habe ich kaum geschlafen, obwohl mich die Müdigkeit sofort übermannt hatte, kaum, dass mein Kopf das Kissen berührt hatte. Es waren die Alpträume gewesen, die mich geplagt hatten und die ich, bevor ich zurückgekehrt war, geglaubt hatte endgültig losgeworden zu sein.

Die Kälte draußen hilft mir meine Müdigkeit zu vertreiben und als nur wenige Minuten später die ersten Autos der Helfer auf den Parkplatz fahren, fühle ich mich schon besser.

»Du bist gekommen.«

Ich zucke erschrocken zusammen und fahre herum. Vor mir, mit einem Abstand von gut zwei Metern, steht Steve. Er trägt eine dickere Jacke und über seiner Schulter hängt ein Rucksack, den ich nicht erst hoch zu heben brauche, um zu erkennen, dass er sehr schwer ist. Ihm scheint das Gewicht nichts auszumachen. Ich frage mich, was sich darin befindet und ob es etwas mit unserer Aufgabe heute zu tun hat.

»Natürlich«, stoße ich atemlos hervor. Mein Herz schlägt mir immer noch bis zum Hals und ich muss tief durchatmen um es zu beruhigen. »Wieso sollte ich nicht?«, frage ich, als ich mir sicher bin, dass meine Stimme wieder normal klingt.

Er zuckt beiläufig mit den Schultern und tritt einen Schritt näher heran. »Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil dir in der Nacht eingefallen ist, was ich gesagt habe und du nicht vor hast uns Wildfremden dein Leben anzuvertrauen?«, fragt er und verzieht seine Mundwinkel zu einem leichten Grinsen.

Ich muss schmunzeln. »Keine Sorge, ich kann sehr gut auf mich aufpassen.«

»Darüber mach ich mir keine Sorgen«, entgegnet er. »Was deine Vernunft angeht allerdings ...« Den Rest des Satzes lässt er unsichtbar in der Luft hängen.

Ich ignoriere den leichten Seitenhieb, weil ich weiß, dass er es nicht böse meint. Wahrscheinlich wirke ich auf sie alle wie eine absolute Verrückte und ich kann es ihnen nicht verübeln. Wer taucht schon mitten in der Nacht in einer Stadt auf, die am Zusammenfallen ist, spaziert in eben dieser alleine durch die Wälder und meldet sich dann auch noch freiwillig bei einem wirklich gefährlichen Teil des Ganzen, mitzuhelfen? Zwar weiß ich nicht wo genau die Gefahr liegt, aber ich bin mir sicher, dass es nur wenig mit einem Erdbeben zu tun hat. Immer wieder taucht das Bild von der zerfallenen Ruine des Labors vor meinem inneren Auge auf und ich versuche es mit dem in Einklang zu bringen, was ich als letzte Erinnerung an diesen Ort habe. Das ist Jahre her, flüstere ich mir in Gedanken selbst zu, aber das unheilvolle Gefühl in meiner Brust bleibt.

»Ich schätze, dass du dich nicht umstimmen lässt?«, versucht es Steve erneut, aber als ich den Kopf schüttle, kann ich sehen, dass es sowieso nur ein halbherziger Versuch gewesen ist.

»Dann komm.« Er deutet mir an ihm zu folgen.

»Und Nancy?«

»Sie kommt dazu. Wir müssen dich noch ausrüsten.«

Ich ziehe eine Augenbraue hoch, als Steve an mir vorbeigeht, die Tür der Schule aufzieht und sie mir aufhält. Skeptisch gehe ich hindurch und folge ihm den langen Gang entlang, den ich einen Tag zuvor erst mit Robin durchquert habe. Allerdings gehen wir dieses Mal nicht in die Turnhalle, sondern durch eine weitere Tür in einen Raum, der wohl einmal ein Klassenzimmer gewesen ist. Jetzt ist davon nicht mehr viel zu sehen, lediglich die Tafel deutet daraufhin. An drei der vier Wänden, stehen große Schränke und Regale, die beinahe überquellen. Sie sind gefüllt mit kleinen Kartons, dessen Aufschrift ich aus der Entfernung nicht lesen kann. Steve geht zu einem der Schränke und als er die Tür aufzieht, hole ich geräuschvoll Luft.

Waffen.

Entschlossen und fast schon automatisch, als wäre dies hier die normalste Sache der Welt, greift Steve nach einem Gewehr mit langem Lauf und hängt es sich über die Schulter. Er steckt eine Pistole in seine Hose und schnappt sich zwei Kartons. Es muss Munition sein.

»Ziemlich schweres Geschütz um die Trümmer eines Erdbebens zu durchsuchen«, merke ich an. Das Ungute Gefühl von vorhin klopft erneut bei mir an.

Steve wirft mir einen kurzen Blick zu. In seinen Augen spiegelt sich ein Ausdruck, den ich nicht deuten kann und der ebenso schnell wieder verschwunden ist. »Wir sind nur auf alle Eventualitäten vorbereitet.«

»Hmm -« Ich nicke, als würde mir seine Antwort genügen. »Du hast gesagt, dass wir mich noch ausrüsten müssen. Bekomme ich auch so was?« Ich deute auf das Gewehr.

Steve lacht auf. »Kannst du denn damit umgehen?«

»Ich habe noch nie eins gebraucht.« Die Zweideutigkeit meiner Worte fallen ihm nicht auf, oder er lässt es sich nicht anmerken. Ich denke daran, wie ich dem Busfahrer die Gedanken manipuliert habe (Ist das wirklich erst einige Tage her?) und an die unzähligen Male davor, als ich meine Kräfte zu meinem Vorteil eingesetzt habe. Meine Fingerspitzen beginnen zu kribbeln. Es kostet mich viel Selbstbeherrschung mich wieder auf Steve zu konzentrieren.

»Dann sollte das hier -« Er greift erneut hinter sich und zieht eine zweite Pistole hervor. »- für den Anfang genügen. Laden. Entsichern. Zielen. Schießen.« Mit kurzen Handbewegungen zeigt er mir, wie die Waffe zu benutzen ist und reicht sie mir dann zögerlich. Ich sehe ihm deutlich an, dass ihm die Situation nicht gefällt und auch wenn ich ihn verstehen kann, nehme ich die Pistole entgegen und stecke sie in meinen Hosenbund. Ich versuche ihm einen beruhigenden Blick zu schenken, doch er sieht mich gar nicht wirklich an, sondern kramt nach weiterer Munition, die er mir ebenfalls übergibt. Ich verstaue die Patronen in meiner Hosentasche. Das Gewicht von beidem scheint unfassbar schwer zu sein, zumindest fühlt es sich für mich so an. Gewalt ist für mich nie eine Lösung gewesen. Das alles hier löst Unruhe in mir aus, aber ich bin fest entschlossen keinen Rückzieher zu machen. Ich muss wissen was hier los ist, bin eben genau deshalb zurück in die Stadt gekommen. Etwas hat mich an der Nachricht des vermeintlichen Erdbebens angezogen und bis jetzt kann ich das Gefühl nicht verscheuchen, welches mich dazu antreibt zu bleiben und Nachforschungen anzustellen. Es ist fast so, als würde mich ein unsichtbarer Magnet anziehen.

»Okay, dann haben wir es«, äußert sich Steve wieder zu Wort und reißt mich so aus meinen Gedanken. »Gehen wir. Nancy wartet mit Sicherheit schon.«

Ich nicke und zusammen gehen wir den selben Weg zurück wie vorhin. Als wir aus dem Gebäude treten, biegt Steve gleich nach rechts ab und führt mich geradewegs auf ein braunes Auto zu, welches an der Seite fast überall Kratzer aufweist. Eine tiefe Beule zieht sich fast an der gesamten Hinterseite entlang.

»Schicker Wagen«, scherze ich.

Steve grinst. »Ein Prachtstück, ich weiß. Aber lass dich nicht täuschen, er hat mir schon gute Dienste erwiesen.«

»Das glaube ich dir aufs Wort«, gebe ich ebenfalls lächelnd zurück. »Wo treffen wir Nancy?«

Ich sehe dabei zu, wie Steve um das Auto herum geht. Er hält mir die Beifahrertür auf und wirft sie sogleich mit einem leichten Stoß ins Schloss zurück, als mein Körper auf den weichen Sitz sinkt. Im Auto riecht es nach Motoröl und etwas, dass mich an Sandelholz und Kiefernadeln erinnert. Es ist ein männlicher Geruch und als Steve sich neben mich fallen lässt, erkenne ich, dass er genauso riecht.

»Wir treffen sie ein paar Blocks von dem gelben Gebiet entfernt und müssen dann noch ein Stück zu Fuß weiter. Die Autos lassen wir stehen. Wir wissen nicht wie schlimm es dort aussieht und kommen wahrscheinlich mit den Autos nicht besonders gut voran«, beantwortet Steve meine Frage von vorher. Seine Stimme klingt besorgt, aber als ich ihn prüfend von der Seite mustere, startet er den Motor und ich kann nicht erkennen, ob ich mir das vielleicht nur eingebildet habe.

Eine Weile sitzen wir einfach nur schweigend da, dann streckt Steve die Hand zum Radio aus. »Störts dich, wenn ich Musik anmache?«

»Nur zu.« Ich zucke mit den Schultern.

Well, I don't really know her, I only know her name, but she crawls under your skin, you're never quite the same, erklingt eine männliche Stimme aus den Lautsprechern.

Ich sehe aus dem Fenster. Wir fahren an unzähligen zerstörten Gebäuden vorbei, an Wiesen und Feldern. Das Schild der städtischen Videothek baumelt haltlos an einem Kabel herunter. Es ist so ein trostloser und trauriger Anblick, dass ich meinen Blick schnell wieder abwende und in das Innere des Wagens zurückkehre. Aus den Augenwinkeln sehe ich gerade noch wie Steve schnell wegsieht. Er muss mich für einen kurzen Moment angesehen haben und ich frage mich, was ihm durch den Kopf geht. Er muss ein dutzend Fragen an mich haben, aber obwohl ich ihm gerne ein wenig seiner Sorge abnehmen würde, bin ich nicht bereit ihm all zu viel über mich zu verraten. Ich weiß, dass es unfair ist und ich möchte niemand sein vor dem sie sich fürchten, aber vielleicht, dessen bin ich mir bewusst, werde ich niemals bereit sein über das zu sprechen was vor all den Jahren hinter den dicken Mauern des Hawkins Lab mit mir passiert ist.

Das letzte KapitelWhere stories live. Discover now