Kapitel 1 - Ausritte dienen auch der Problembewältigung

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Grover Beach, Kalifornien 1995

„Weiß du, und dann sagt er mir ständig, ich solle mich nicht mit einem so kleinen College wie Santa Barbara zufrieden geben. Er tut so, als wäre ich nicht ehrgeizig genug, weil ich nicht nach Harvard gehen möchte", erzählte mir Mia frustriert. Sie zog leicht die Zügel an und brachte Olga, ihre große braune Stute zum Stehen. Ohne dass ich meinem Fuchswallach eine entsprechende Parade gegeben hätte, hielt er ebenfalls an. Er machte von Natur aus nie mehr als er musste.

Verständnisvoll blickte ich Mia an. In letzter Zeit gab es nur noch Klagen über ihre Beziehung zu Jeremiah. Dabei hatte bei den Beiden alles so gut angefangen. Ich freute mich ehrlich, und war sogar ein kleines bisschen neidisch gewesen, als der gutaussehende Jeremiah Mia auf einer Strandparty ansprach. Am Ende des Abends ging er mit ihrer Telefonnummer nach Hause und rief sie zwei Tage später an. Schließlich waren sie vor drei Monaten zusammen gezogen und seit dem hing irgendwie der Haussegen schief.

Wir ließen unsere Pferde nebeneinander laufen, um uns unterhalten zu können. Über den breiten Kiesweg, den wir eingeschlagen hatten, würden wir in etwa einer Meile die herrliche Dünenlandschaft von Grover Beach erreichen. Dann war es nicht mehr weit bis zum Wasser. Ein morgendlicher Ausritt vor der Kulisse des Pazifischen Ozeans war mit absolut nichts zu vergleichen.

Olga, die den salzigen Geruch des Meeres witterte, fing an zu tänzeln. Die Pferde liebten diese Ausritte an den Strand. Der Ozean hatte offenbar eine ähnlich berauschende Wirkung auf die Tiere wie auf uns Menschen. Sogar Casanova, mein ansonsten phlegmatischer Wallach, hob den Kopf und schnaubte laut und aufgeregt.

„Was ist denn jetzt eigentlich mit heute Abend?", fragte Mia, „kommst du mit? Chase hat jetzt schon zum zweiten Mal nach dir gefragt."
„Chase fragt wahrscheinlich noch nach hundert anderen weiblichen Wesen", erwiderte ich abfällig.
„Ja, das kann schon sein", gab Mia mir recht, „Aber du könntest ja unabhängig davon trotzdem kommen."

Ich überlegte, wie ich das vor Levy begründen würde. Dabei fiel mir nicht im Geringsten auf, dass ich gerade auf dem besten Weg war, eine Ausrede für einen Alleingang zu entwerfen. Levy war seit eineinhalb Jahren mein Freund, und vor einem knappen Jahr waren wir zusammengezogen. Mein Vater hatte uns eine kleine Eigentumswohnung zur Verfügung gestellt, die wir jetzt miteinander teilten. Allerdings war Levy selten zu Hause. Ja, er machte sich gerade mit der Entwicklung von Sicherheitsprogrammen selbstständig und ich sollte dafür Verständnis haben. Aber dass mein Traummann grundsätzlich vor 22:00 nicht mehr nach Hause kam, machte mich alles andere als glücklich.

Und mein Traummann war er wirklich gewesen. Ich hatte ganze 5 Jahre Energie darauf verwendet, ihn zu erobern. So lange hatte es auch gedauert, bis er sich entschließen konnte, sein Single-Dasein aufzugeben und sich auf mich einzulassen. In der Zwischenzeit hatte ich ihn auf einen Sockel gestellt und aus der Ferne angehimmelt. Und jetzt musste ich mir leider eingestehen, dass der Heiligenschein, mit dem ich ihn versehen hatte, etwas eingetrübt war, und der Sockel kleine Risse bekam.

„Ja, das wird sich schon einrichten lassen, dass ich heute Abend vorbeikomme", hörte ich mich sagen.

Wir ließen unsere Pferde in einen leichten Trab fallen und zügelten sie erst wieder, als ihre Hufe den sandigen Boden der Dünenlandschaft betraten. Es war anstrengend, sich durch den lockeren Sand vorwärts zu bewegen, weshalb wir hier schweigend hintereinander ritten und den Pferden ihren eigenen Rhythmus zugestanden.

Als wir den Strand erreichten, hatte Mia Mühe, Olga zu beruhigen. Casanova schüttelte den Kopf und kaute aufgeregt auf seinem Trensengebiss. Schaum aus seinem Maul fiel auf die Spitze meines Stiefels. Ich wusste, wenn ich ihm jetzt die Zügel frei gab, würde er vorwärts schnellen wie ein abgeschossener Pfeil. Ich plante, ihn vorne in den nassen Sand zu leiten, wo das Wasser der auslaufenden Wellen ihn hoffentlich ein wenig bremsen würde.

Wir schafften es gerade so bis in die Brandung. Olga stieg, worauf Mia sich nach vorne beugte und sie laufen ließ. Casanova hatte vergessen, dass er eigentlich ein faules Tier war, machte einen gewaltigen Satz nach vorne und legte mit einem Ausschlagen der Hinterhufe nach. Ich war ziemlich sattelfest, so schnell würde ich mich nicht abwerfen lassen, aber dieser etwas unfaire Hüpfer verlangte mir sämtliche Kraft der Oberschenkel ab. Ich stellte mich in die Steigbügel und beugte mich leicht nach vorne.

Unsere Pferde galoppierten nun mit kraftvollen Schritten nebeneinander her, und nach dem kurzen Schreck von gerade eben, genoss ich das Tempo und den Wind, der mir die kurzen Haare aus der Stirn wehte. Ich atmete den würzigen Geruch des Meeres ein und bewunderte die mächtigen Wellen, die von der Seite auf uns zu rollten. In diesem Moment fühlte ich mich absolut frei.

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