Kapitel 11 - Katys Kernkompetenz

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Francis Ford, der grau getigerte Kater von Katy Cool, testete mit seiner schmalen Pfote das rohe Hackfleisch, das sie ihm, dekorativ angerichtet in einer Keramikschale, gerade serviert hatte. Konzentriert leckte er an dem winzigen Bröckchen, das in seinem Fell zwischen den Zehen hängen geblieben war, und befand es für genießbar.

Katy hatte es sich auf dem dicken, weichen Teppich ihres kleinen Wohnzimmers, mit nicht weniger als sechs unterschiedlichen Fachbüchern aus der Welt der Arachniden, bequem gemacht. Eine Tasse mit heißem Orangensaft, in dem eine aromatische Zimtstange schwamm, stand hinter ihr auf einem zierlichen, runden Glastischchen.

Konzentriert blätterte sie in einem dicken Wälzer mit dem Titel 
Spinnen und ihre Toxine,
las hier und da etwas, machte sich auf einem kleinen Block Notizen oder klebte bunte Markierungspfeile an den Rand einiger Textabschnitte.

„Das kann aber nicht sein, kein Gift der Welt tötet so schnell", murmelte sie.

Francis Ford miaute zustimmend.

„Das hilft mir nicht weiter, Kater! Als hättest du auch nur die leiseste Ahnung von diesen interessanten Krabbeltieren."

Katy notierte auf ihren Block:

Brasilianische Wanderspinne, Herkunft: Brasilien, Uruguay, Paraguay, manchmal eingeschleppt in Bananenkisten, sehr giftig, Gegengift vorhanden

Sydney Trichternetzspinne, lebt ausschließlich in Australien:
Gift tötet innerhalb einer Stunde
Mittlerweile ist in fast allen Arztpraxen ein
Gegengift verfügbar

Schwarze Witwe, hier ansässig, verabreicht ihrem Opfer einen Cocktail aus mehreren Neurotoxinen,
vereinzelte Todesfälle sind bekannt

Braune Einsiedlerspinne, hier ansässig
Gift verursacht großflächiges Absterben der Haut (Nekrose)

Wo ist die Parallele zu den jüngsten Todesfällen?

Nachdenklich kaute sie am Ende ihres Kugelschreibers herum.

Ihr Nacken begann zu schmerzen. Wie immer, wenn sie das Gefühl hatte, nicht weiterzukommen, wenn eine Denkblockade ihr das Gehirn vernebelte, reagierte ihr Körper mit diesem unangenehmen, protestierenden Ziehen, das sich langsam, aber sehr zuverlässig von ihren Halswirbeln über die Schläfe bis hin zu ihrem Auge ausbreitete. Oftmals war dann eine sechshunderter Motrin der einzige Ausweg.

Sie versuchte, den Kopfschmerz zu ignorieren und den Fokus wieder auf die tatverdächtigen Spinnen zu legen.

An der Leiche von Ewan Beasley hatte sie keinen Hinweis auf eine Nekrose gefunden. Die Einsiedlerspinne kam also mit großer Wahrscheinlichkeit nicht infrage.

Dann noch eher die Schwarze Witwe. Ihr Biss konnte tatsächlich Herzrasen, Muskelkrämpfe und Atemnot hervorrufen, was insbesondere für Kinder und alte Menschen eine Gefahr darstellte. Nichtsdestotrotz blieb jedoch Zeit genug,  einen Arzt aufzusuchen, der Tod trat so gut wie nie sofort ein. Weshalb also hatte das Opfer nicht den Notruf betätigt?

Katy tastete hinter sich und griff nach der Tasse mit dem heißen Orangensaft. Der Duft der Zimtstange drang ihr verführerisch in die Nase.

Ihre Gedanken wanderten. Eruierten jede noch so kleine Möglichkeit. Ihr Gehirn lieferte ihr zuverlässig Bilder der unterschiedlichsten Spinnen, und präsentierte gleichzeitig die Zusammensetzung des jeweiligen Toxins.

Zwei Arten zählte man zu den giftigsten und gefährlichsten Tieren:  

Das war einmal ohne Frage die Brasilianische Wanderspinne, deren Biss Übelkeit, Schwindel und Herzrasen hervorrief. Außerdem - und das stellte Katy sich wirklich furchtbar entwürdigend vor - löste es schmerzhafte Dauererektionen aus. Der lateinische Name dieses unangenehmen Vertreters lautete Phoneutria nigriventer, was übersetzt Mörderin bedeutete, Katy jedoch zu der sachlichen Überlegung veranlasste, weshalb man das Tier nicht besser Viagra-Spinne getauft hatte.

Nun - eine Dauererektion hatte sie bei ihrer detaillierten Obduktion definitiv nicht festgestellt.

Blieb noch Nummer Zwei der todbringenden Arachniden: Die Sydney Trichternetztspinne. Für hiesige Verhältnisse ein großes Tier, passte sie im Durchmesser auf den Handteller eines Erwachsenen. Die Australier würden sie jedoch, zumindest im direkten Vergleich mit der etwa dreißig Zentimeter langen Riesenkrabbenspinne, eher zu den kleineren Arten zählen.

Wie auch immer, ihr Biss konnte ebenfalls tödliche Folgen haben, wenn kein Gegengift verabreicht wurde. Aber, auch hier trat der Tod nicht so schnell ein, dass das Opfer nicht Zeit gehabt hätte, 911 zu wählen.

Davon abgesehen: Das hier war Kalifornien und die Trichternetzspinne gab es hier nicht. Selbst für den Fall, dass ein Exemplar eingeschleppt worden wäre, würde das niemals die lokale Häufung der Todesfälle erklären. Sehr unwahrscheinlich, dass gleich mehrere Tiere unterwegs waren.

Und noch ein wichtiger Punkt kam hinzu: Ewan Beasley starb eindeutig in sanitären Räumlichkeiten. Man wusste aber von der Trichternetzspinne, dass sie sich nicht auf glatten Oberflächen bewegen konnte. Und der Raum, in dem der arme Ewan den Tod fand, war komplett gefliest gewesen.

Was also stimmte hier nicht? Katy zeichnete Fragezeichen in unterschiedlichen Formen und Größen auf den vor ihr liegenden Block, was ihr jedoch gar nicht bewusst war.

War sie die Einzige, der Ungereimtheiten aufgefallen waren? Welche Informationen besaß das Gesundheitsamt in Los Angeles? Oder anders gefragt: Welche davon waren für die Öffentlichkeit bestimmt?

Sie ahnte bereits, dass sie ein paar unangenehme Fragen würde stellen müssen und sich damit wahrscheinlich nicht nur Freunde machte. Aber irgendetwas musste unternommen werden. Denn ging man weiterhin davon aus, dass es sich hierbei um vereinzelte Unglücksfälle handelte, anaphylaktische Schockreaktionen beispielsweise, dann steuerte man womöglich naiv und unvorbereitet auf eine Katastrophe zu.

Solche Szenarien verglich Katy gerne mit dem Untergang der Titanic. Alle Eiswarnungen hatten nicht ausgereicht, die drohende Gefahr zu erkennen und die verheerende Kollision abzuwenden.

Würde es in diesem Fall auch auf einen Super-Gau hinauslaufen?

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