Kapitel 31 - Katy, die Hasardeurin

50 10 44
                                    

Katy Cool wischte sich mit dem Ärmel ihres weißen Arbeitskittels über die feuchte Stirn. Ihr Puls ging unregelmäßig, und sie musste sich zwingen, ruhiger zu atmen.

In der Abteilung für forensische, naturwissenschaftliche Analyse herrschte schon seit dem frühen Morgen hektische Betriebsamkeit, die ungesund fiebrig wirkte und vom Bewusstsein einer drohenden Gefahr zeugte.

Auf ihr höfliches „Guten Morgen" hatte sie vorhin allenfalls ein „Mhm" oder ein dahin gebrummtes „Dito" zu hören bekommen.

Im Vorbeigehen sah sie einen ihrer Kollegen über ein Mikroskop gebeugt sitzen und langsam den Schärferegler des Gerätes nach oben drehen. Auf dem Schreibtisch vor ihm lag eine geöffnete Akte, in die jede noch so kleine Entdeckung notiert werden würde.

Unmerklich schüttelte Katy den Kopf. Alle waren hoch motiviert, die Übertragungswege der Krankheit zu erforschen und Erkenntnisse für die Entwicklung eines Impfstoffes zu gewinnen. Nicht zuletzt steckte hinter dem Eifer natürlich auch der pure Ehrgeiz, auf der Karriereleiter nach oben katapultiert zu werden. Welcher Forscher träumte nicht davon, eine bahnbrechende Entdeckung zu machen, die die Bekämpfung solcher unbekannten Krankheiten revolutionieren würde?

Aber niemand schien sich zu fragen, weshalb heimische Spinnen plötzlich über derart tödliche Werkzeuge verfügten. Die Theorie, dass sich illegal eingeschleppte Arachniden vermehrt hätten, hielt sie aus mehreren Gründen für unwahrscheinlich. Daraus ergab sich allerdings die einzig logische Schlussfolgerung, nämlich, dass man die Tiere in irgendeiner Form manipuliert hatte. Mit voller Absicht! Ihr wurde übel, wenn sie darüber nachdachte. In was für eine Riesenscheiße war sie da nur reingeraten?

Nachdenklich zog sie sich in ihren Bereich zurück, in das Forensiklabor, eine Etage tiefer. Normalerweise übte schon das Betreten ihres klinisch sauberen Arbeitsplatzes eine beruhigende Wirkung auf sie aus, heute jedoch empfand sie die obligatorische Kühle, die der Raum ausstrahlte, als unangenehm. Der Anblick des sterilen Interieurs, verbunden mit den niedrigen Temperaturen und dem Geruch nach Desinfektionsmittel machte sie auf eine ungewohnte Weise nervös.

Ängstlich und angespannt hatte sie sich allerdings schon während der letzten Tage gefühlt. Seit ihres Besuchs in Silicon Valley, der Begegnung mit dem Forscher Colin Steward und dessen unterschwellig bedrohlichem Gehabe, stand Katy irgendwie unter Dauerstrom. Sie zuckte bei jedem unbekannten Geräusch zusammen und fühlte sich getrieben, ständig über die Schulter zu schauen, als lauerte da etwas im toten Winkel ihrer Umgebung.

Wie kann es möglich sein, dass sich Vergiftungserscheinungen plötzlich bei Menschen wiederfinden, die nicht von einer Spinne gebissen wurden.

Lähmungserscheinungen, Krämpfe, Atemnot.

Welche Viruserkrankungen lösten solche Symptome aus?

Katy zog einen dicken gelben Wälzer aus dem oberen Regal ihres Spindes. Der schmale Metallschrank diente ihr zur Aufbewahrung sowohl persönlicher Gegenstände, als auch Arbeitsmaterialien, die sie für notwendig erachtete. Dazu gehörte unter anderem eine Auswahl an medizinischer Fachliteratur, auf die sie häufig zurückgriff.

Mit dem schweren Buch in der Hand ließ sie sich langsam auf einem der kalten Metallstühle nieder.

E, En,Enz...

Ihr Finger glitt über die Buchstaben des alphabetisch aufgebauten Stichwortregisters.

Enzephalitis.

Fieber, Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit, Übelkeit.

Das passte noch nicht so ganz. Doch sie wusste, es gab noch andere, weniger bekannte Arten der Hirnhautentzündung.

So rief beispielsweise das La Crosse Enzephalitis Virus unter anderem Reflex-Störungen und Epilepsie hervor.

Trotz der Kühle im Raum fühlte Katy Hitze in sich aufsteigen, die ihren Hals hinauf kroch und ihre Wangen rot färbte.

Um ihren Verdacht zu erhärten, bräuchte sie allerdings ein Exemplar der todbringenden Gattung. Und das stand ihr leider nicht zur Verfügung. Nach ihrem Wissensstand war es bisher sowieso überhaupt noch nicht gelungen, eines der gefährlichen Tiere einzufangen, was natürlich auch daran lag, dass es gar nicht so viele nachweisliche Spinnenattacken gegeben hatte. Allerdings waren diese wenigen schon vollkommen ausreichend, um maximalen Schaden anzurichten.

Dadurch, dass mittlerweile sämtliche Haushalte mit Abflussschutz ausgestattet waren - ihr eigener eingeschlossen - wurden weitere Vorfälle größtenteils verhindert.

Nur leider verbreitet sich die beängstigende Krankheit nun auch ohne vorherigen Biss.

Katy zupfte nervös an den Seiten des medizinischen Wälzers.

Wo bekomme ich ein Tier her, das für diese Anthropozoonose verantwortlich ist?

Und dann hatte sie einen Einfall.

***

Der Parkplatz vor The Home Depot war nahezu komplett besetzt. Mit viel Geschick manövrierte Katy ihren Previa Van in die einzige freie und sehr schmale Lücke zwischen einem protzigen BMW Cabrio und einem anthrazitfarbenen Pick up Truck.

Teufel noch mal, was ist denn bitte hier los?

Katy hatte aufgrund des Parkplatzmangels zwar erwartet, dass es im Inneren des Baumarktes voll sein würde, fühlte sich dann jedoch vollkommen erschlagen von den Menschemassen, die sich in den verschiedenen Gängen und zwischen den Regalen bewegten.

An den Kassen hatten sich lange Schlangen gebildet, die Einkaufswagen der Wartenden quollen über von Produkten wie Insektenschutzgitter, elektronischen Spinnenabwehrgeräten und allerlei Werkzeug.

Die Kassiererinnen arbeiteten wie am Fließband, zogen mit schnellen Bewegungen die Waren über den Barcodeleser, ohne dabei aufzusehen.
Die fröhliche Musik, die aus unsichtbaren Lautsprechern drang, konnte nicht hinwegtäuschen über die furchtsame Nervosität, die den Käufern aus allen Poren drang. Katy nahm nur am Rande die aufgeregten Gespräche wahr, die sich allesamt um das eine Thema drehten: Den Schutz vor den aggressiven Giftspinnen und die Sorge vor einer Ansteckung mit einem unbekannten und offenbar todbringenden Virus.

Anzeigetafeln informierten den Kunden über die neusten und effektivsten Geräte zur Insektenabwehr. Überall waren Holzbänke platziert, auf denen Lavendel und Minze angeboten wurden - Pflanzen denen man nachsagte, ihr Duft würde Spinnen zuverlässig fernhalten.

Im zweiten Gang auf der rechten Seite wurde Katy fündig. Sie studierte die Gebrauchsanweisung auf der Rückseite der flachen Verpackung einer Insektenfalle. Das sollte funktionieren. Sie würde das Teil über einem Abfluss im Bad befestigen. Dann galt es zu warten, ob einer der Übeltäter in die Falle tappte.

Noch zögerte sie. Die Gefahr, der sie sich wissentlich aussetzte, war enorm. Aber ihr analytisches Gehirn hatte Blut geleckt und all ihre Sensoren blinkten, um Bereitschaft zu signalisieren. Wie die Speichel-Rezeptoren beim Pawlow'schen Hund, die schon aktiviert werden, wenn nur der Hinweis auf die mögliche Fütterung erfolgt.

Sie würde sehr vorsichtig vorgehen. Und zunächst einmal niemanden darüber in Kenntnis setzen. Mit Ausnahme von Paul vielleicht.

Mit ihrem einzelnen Produkt brauchte sie in der Schlange noch weitere zwanzig Minuten, da sich niemand erbarmte, sie vorzulassen. Als sie schließlich in die stechende Nachmittagssonne trat, meldete sich die altbekannte Migräne an.

Trotz der immer stärker werdenden Kopfschmerzen lief das Gedankenkarussell heiß, während sie ihren Van durch die wenig befahrenen Straßen zurück zu ihrem Apartment steuerte. Aus diesem Grund entging ihr auch der dunkle Wagen, der ihr seit ihres Aufbruchs von ihrem Arbeitsplatz folgte.

VirusWhere stories live. Discover now