Kapitel 32 - Wenn das Meer die Tränen trocknet

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Eine angenehme Wärme und der würzige Geruch nach Salz und Seetang empfingen mich im selben Augenblick, als ich aus dem Auto stieg.

Ich hängte mir meine blau weiß gestreifte Badetasche über die Schulter und sah mich nach Mia um, mit der ich mich spontan zu einem Treffen am Strand verabredet hatte.

Vereinzeltes Kinderlachen und die Rufe der hungrigen Möwen drangen in meine Ohren. Wenn Familien mit ihrem Nachwuchs einen Strandtag einlegten, dann war Essbares nicht weit. Das wussten auch die schlauen Vögel und versammelten sich dann gerne zu einem Bettelkonzert.

Gerade wollte ich mich auf eine der Bänke setzen, um auf Mia zu warten, als ich sie auf den Parkplatz hasten sah. Ihre rotbraunen Locken flatterten ihr ins Gesicht. Ärgerlich schob sie ihre schwarze RayBan über die Stirn und funktionierte sie kurzerhand zum Haarreif um.

Wie schon so oft begeisterte mich ihre unkomplizierte Schönheit. Die Sonne hatte ihr einen bronzenen Teint verpasst und auf ihrer Nase ein paar hübsche Sommersprossen verteilt. Wie konnte Jeremiah das nur übersehen?

„Sorry, ich bin bisschen spät losgefahren", entschuldigte sie sich und umarmte mich kurz.

„Wir haben ja Zeit. Allerdings sind eben einige Familien eingetroffen, wir sollten uns vielleicht also schon mal einen guten Platz in den Dünen sichern."

„Mich wundert es, dass so viel los ist, obwohl wir ein Spinnenproblem haben und sich eine gefährliche Krankheit ausbreitet. Das muss die Leute doch abhalten."

„Ich glaube, die Spinnengefahr ist draußen geringer als drinnen", erwiderte ich, „und eine Krankheit nimmt man sowieso nur ernst, wenn jemand aus deinem näheren Umfeld betroffen ist. Obwohl ich zugeben muss, dass ich langsam ehrlich Angst bekomme - aber trotzdem, wir sind ja auch hergekommen."

Mia sah mich nachdenklich an, bevor sie antwortete.

„Angst habe ich genauso. Du hörst ja gar nichts anderes mehr. Aber man verdrängt das vielleicht auch. Außerdem macht mir der ganze private Scheiß im Moment mehr zu schaffen."

Ich schwieg, weil mir dazu nichts Kluges einfiel. Es stimmte natürlich, man wurde von einer Katastrophe bedroht, die noch nicht greifbar war und sich im Hintergrund formierte. Doch die Alltagssorgen verschwanden ja dadurch nicht. Zumindest noch nicht.

Über einen hölzernen Steg erreichten wir nach wenigen Metern den hellen Sandstrand, der sich hier an diesem
Küstenstreifen kilometerweit vor dem gewaltigen Pazifik erstreckte. Selbst wenn viel los war, fand sich meistens noch ein ausreichend großes Plätzchen, wo man ungestört in der Sonne liegen konnte, ohne das Gefühl zu haben, sich in einer Sardinenbüchse zu befinden.

Wir entschieden uns für die vorgelagerten Dünen, legten unsere Handtücher in eine Mulde zwischen zwei grasbewachsene Sandhügel, die uns gleichzeitig als Windschutz dienten, und richteten uns auf einen schönen Badetag ein.

„Also erzähl!", forderte ich und streifte meine Schuhe von den Füßen.

„Erzähl Du erst mal!", erwiderte Mia.

Ich erschrak über den Schatten, der heute ihren Blick verdunkelte. Sie wirkte traurig und verletzt, was mich annehmen ließ, dass es ihr schlechter ging als mir."

„Später", sagte ich, „setz mich erstmal ins Bild, was da bei euch beiden gerade schief läuft."

Mia seufzte.

„Ich habe echt keine Ahnung, was mit Jeremiah los ist. Weißt du, womit er in letzter Zeit ständig ankommt? Dass ich ihm zu konservativ bin. Dass ich mich nie sexy anziehe. Und lieber nur zu Hause hocke, am besten in Jogginghose."

An der Art, wie fest sie ihre Lippen aufeinander presste konnte ich erkennen, dass sie kurz davor war, in Tränen auszubrechen.

„Idiot!", sagte ich böse.

Mia nickte, dann zuckte sie mit den Schultern. Eine hilflose Geste, die ihre Verwirrung über Jeremiahs veränderten Charakter deutlich machte.

„Was ist mit Chase? Ihr habt euch getrennt oder?"

„Weißt du das schon? Woher denn?"

„Die Art, wie er plötzlich ins Harrys gestapft kam..." - hier schmunzelte Mia verhalten - „mit so einem wütenden Gesichtsausdruck. Und später hat er mir dann kurz erzählt, dass Levy dich erwischt hätte. Aber ich war gestern irgendwie so sehr mit mir selbst beschäftigt, ich bin nicht weiter darauf eingegangen. Sorry, Ava."

Ich winkte ab. „Als ob ich das nicht verstehe! Aber du meinst schon, dass er sauer war?"

Das sollte dich doch gar nicht interessieren Ava!

„Ja, er kam mir ziemlich wütend vor. Ich denke, er ist auch nicht gewohnt, dass man ihm den Laufpass gibt. Und ich glaube, er hat es schon ernst gemeint mit dir."

Mein Puls beschleunigte sich, und das bedrückende Gefühl, das mich seit gestern Abend so fest in den Klauen hatte, trat ein klein wenig in den Hintergrund. Ich war ihm also nicht egal. Wenigstens etwas. Für einen Augenblick ließ ich meinen Blick über die Weite des Ozeans schweifen. Kein einziges Wölkchen zeigte sich über uns. Am Horizont verschwamm das tiefe Blau des Pazifiks mit dem helleren des Himmels zu einer flimmernden Linie.

„Komm, lass uns erstmal schwimmen gehen. Wir reden später weiter, okay?", schlug ich dann vor.

Mia war sofort einverstanden.

Der frische Seewind umfing uns, als wir durch den aufgeheizten Sand zum Wasser hinunter liefen. Ohne zu Zögern wateten wir der schäumenden Flut entgegen und
tauchten tapfer in den kalten anrollenden Wellen unter.

Ich genoss den leichten Schreck, der mich ereilte, als mein sonnenverwöhnter Körper unvorbereitet von dem frischen, prickelnden Salzwasser erfasst wurde. Für eine Sekunde zogen sich alle Muskeln zusammen und der Atem stockte. Dann holte ich tief Luft.
Ein Gefühl der Unbeschwertheit erfüllte mich, hervorgerufen durch die Leichtigkeit und dem sanften Rhythmus der Wellen. Es kam mir vor, als ob das Meer alle Sorgen davon trug, und in diesem Moment fühlte ich mich lebendiger als je zuvor.

***

Zitternd hüllte ich mich in mein Handtuch, während ich Mias Erzählung lauschte, was meine Entrüstung von Minute zu Minute größer werden ließ.

„Es geht immer darum, dass er will, dass ich Karriere mache. Aber mir ist das nicht so wichtig. Aber das versteht er nicht und dann behandelt er mich, als wäre ich irgendwie minderbemittelt."

„Also der spinnt komplett, wenn du mich fragst", schimpfte ich. Eine geöffnete Coladose in der Hand, saß ich auf Mias Strandmatte und bohrte meine Zehen in den feinen warmen Sand.

Sie schwieg und starrte auf das Meer hinaus. Ihre Miene war unergründlich, was mir erschwerte, ihre wirklichen Gefühle einzuschätzen. Wenigstens wirkte es nicht so, als würden sie und Jeremiah in den nächsten zwei Tagen getrennte Wege gehen. Allerdings wagte ich auch nicht, Mia direkt danach zu fragen.

„Aber ihr bekommt das doch wieder hin!", sagte ich stattdessen.

„Ich bin mir nicht sicher. Eigentlich glaube ich, er hatte von Anfang an eine andere Vorstellung von mir. Jetzt realisiert er, dass ich da überhaupt nicht mithalten kann."

Ich schüttelte den Kopf und hob den Zeigefinger.

„Nein, Du realisierst vielleicht, dass er nicht Deiner Vorstellung entspricht. Aber wenn er ganz brav ist, darf er trotzdem bleiben."

Mia grinste.

„Oder so", erwiderte sie.

Dann legte sie den Kopf schief und fragte:

„Sag mal, heute Abend ist vor dem „Harrys" ein Sommerfest geplant. Ich weiß, dass Chase hingehen wird. Kommst du auch?"

Ich spürte deutlich das aufgeregte Kribbeln in der Magengegend. Ich hatte die Chance, ihn wiederzusehen. Heute schon. Ob ich das wollte? Um ehrlich zu sein, hatte ich überhaupt keine Wahl.

VirusWhere stories live. Discover now