Kapitel 20 - Mit den Augen der Liebe

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Vic war noch immer da, als ich kurz vor Mitternacht nach Hause kam. Der Druck eines furchtbar schlechten Gewissens lastete auf meinen Schultern und stand im krassen Gegensatz zu meinem aufgeregt hüpfenden Herzen.

Jedes Mal, wenn ich den Kuss von vorhin in meinem romantischen Kopfkino abspielte - und das war in der letzten halben Stunde etwa acht Mal passiert - rieselte ein Schauer über meine Wirbelsäule.

Ich machte mir nicht die Mühe, den beiden Herrschaften in Levys Büro eine gute Nacht zu wünschen und verschwand, nachdem ich im Bad das Kurzwaschprogramm durchgezogen hatte, sofort in unserem Schlafzimmer. Wie lange Levy und Vic sich noch damit beschäftigen, als Herrscher neue Welten zu erschaffen, bekam ich nicht mehr mit, denn ich fiel fast augenblicklich in einen tiefen, und erstaunlicherweise völlig traumlosen Schlaf.

***

Levy überschlug sich am nächsten Morgen mit Freundlichkeit, fuhr zu meiner Lieblingsbakery und überraschte mich mit Walnut Cinnamon Rolls und einem Iced Mocha. Ich konnte nicht abstreiten, dass ich mich darüber ehrlich freute, und genoss die Köstlichkeiten in vollen Zügen.

Dass er geplant hatte, wenig später ins Büro zu fahren, ärgerte mich nicht mehr, im Gegenteil, ich nahm es kommentarlos hin, weil ich eigentlich dankbar war, mit mir und meinen wilden Gedanken allein sein zu können.

Ohne es großartig abgesprochen zu haben, schaltete einer von uns neuerdings schon früh am Tag den Fernseher ein. Die neusten Medienberichte waren innerhalb kürzester Zeit Teil unserer Morgenroutine geworden. Heute begrüßte uns der Nachrichtensprecher mit äußerst beunruhigenden Neuigkeiten.

„Erneut verlief eine Spinnenattacke tödlich. Ein männlicher Patient wurde noch im Krankenhaus behandelt, erlag der Vergiftung jedoch. Mit ähnlichen Symptomen wurden zwei weitere Personen in die Klinik verbracht, bei denen sich bisher allerdings keine durch Spinnenbiss hervorgerufene Verletzung fand.
Man hat sie vorsorglich auf der Quarantäne-Station des Krankenhauses untergebracht. Es handelt sich laut der behandelnden Ärzte jedoch um eine reine Vorsichtsmaßnahme.

Es gilt als höchst unwahrscheinlich, dass sich das Gift eines Bisses auf andere Personen übertragen kann, weshalb angenommen wird, dass es sich hierbei um eine Erkrankung handelt, die zufällig zeitgleich ausgebrochen ist. Dennoch bitten wir die Bevölkerung, sehr aufmerksam zu sein und bei Symptomen wie Atemnot, Bauchkrämpfen und allergischen Reaktionen unverzüglich einen Arzt aufzusuchen."

Levy und ich sahen uns besorgt an.

„Ich habe das Fliegengitter vergessen, Mist. Ich fahre heute Abend in den Baumarkt und hole welches, versprochen", sagte er zerknirscht.

„Oh Mann, also langsam macht mir das echt Angst", flüsterte ich, „wenn sich die Symptome wirklich von Mensch zu Mensch übertragen, ohne dass man gebissen wurde, dann nützt uns ein Fensterschutz doch eh nichts mehr."

Levy, der sonst wirklich immer ziemlich gelassen reagierte, sah plötzlich sehr nachdenklich aus. „Da könntest du Recht haben", erwiderte er gepresst.

„Hör zu, ich muss nochmal ins Büro, das kann ich leider nicht ändern. Aber ich sehe zu, dass ich früh genug zurückkomme, damit wir uns erstmal mit den Insektengittern abdecken können. Und vielleicht bringen die im Laufe des Tages auch noch ein paar mehr Infos zu dieser neuen Entwicklung."

Ich nahm einen Schluck von meinem Mocha, doch er schmeckte plötzlich viel zu süß. Eine unbestimmte Furcht hatte mich ergriffen - Furcht vor etwas, das ich nicht einschätzen und auch nicht beeinflussen konnte.

„Okay", sagte ich leise, „schaden kann dieser Insektenschutz ja wohl nicht."

***

Es fiel mir schwer zu entspannen nachdem Levy gefahren war. Ruhelos tigerte ich durch die Wohnung auf der Suche nach möglichen Schwachstellen, die den todbringenden Spinnen Zugang zu unserem Zuhause ermöglichen könnten. Die Erinnerung an den Vorfall im Bad vor ein paar Tagen kam mir in den Sinn und veranlasste mich augenblicklich, sämtliche Abflüsse zu verschließen.

Danach fühlte ich mich allerdings nicht viel sicherer. Gedankenverloren ließ ich mich auf das Sofa neben dem großen Wohnzimmerfenster fallen und zog die Füße unter meine Oberschenkel. Mechanisch mit dem rechten Bein wippend, starrte ich aus dem Fenster. Würde eine Katastrophe auf uns zukommen? Könnte sich das sichere Heim zu einer Falle entwickeln und wäre man am Ende draußen besser aufgehoben als drinnen? Ich bezeichnete mich eigentlich als einen zuversichtlichen Menschen, zumindest einen, der nicht nur die Löcher im Käse sieht. Aber jetzt ergriff eine leichte Panik von mir Besitz, drang in meine verstecktesten Gehirnwindungen wie undurchsichtiger Nebel und erschwerte es, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich hatte das Bedürfnis, meine Mom anzurufen, ihre fröhliche Stimme zu hören und mir von ihr versichern zu lassen, dass alles gut werden würde. Aber meine Mutter, eine ausgebildete Friseurin, die ihr winziges Studio im Keller meines Elternhauses hatte, befand sich gerade auf einer Hair-Design-Messe in San Diego.

Wie heute nicht zum ersten Mal - und ja, wahrscheinlich auch nicht zum letzten - wanderten meine Gedanken zu Chase. Das mittlerweile schon vertraute Kribbeln tanzte meine Wirbelsäule auf und ab. Mit der Erinnerung an gestern Abend fiel mir auch mein Vorhaben, ihn zu zeichnen, wieder ein. Es war schon eine ganze Weile her, seit ich das letzte Mal den Bleistift in die Hand genommen hatte. Aber es half mir, meine Ängste zu kontrollieren. Wenn ich mich nur auf mein Motiv fokussierte, blieb kein Raum mehr für Grübeleien.

Entschlossen kramte ich meinen Zeichenblock aus der untersten Schublade der Wohnzimmerkommode hervor, und bewaffnete mich mit Bleistift und Radiergummi. Das Tageslicht nutzend, kniete ich mich auf den Fußboden und missbrauchte die Sitzfläche des Sofas als Unterlage.

Ich hatte kein Foto von Chase. Normalerweise brauchte ich für mein Motiv immer eine Vorlage. Leider besaß ich nicht die Begabung, Bilder ausschließlich in meiner Fantasie zu erschaffen, um diese dann auf Papier zu bannen. Aber diesmal musste es eben so gehen. Und ich sah Chase Gesicht doch recht gut vor mir.

Eine Weile kreiste die Spitze der Mine orientierungslos über das Papier. Womit fing ich am besten an? Augen? Mund?

Ich zeichnete die Umrisse eines schmalen Gesichtes und skizzierte den Ansatz der Haare. Die Nasenflügel deutete ich zunächst nur an. Nachdem ich die Grundelemente geschaffen hatte, wagte ich mich an die Feinheiten.

Wie sahen seine Augen aus? Das bedeutete zugleich, wie wirkten sie auf mich? Intensiv, ein kleines bisschen überheblich. Aber auch fordernd. Die Farbe der Iris ein helles Blau, wie ein Bergsee, die Pupille wie eine Insel aus dunklem Granit.

Als ich die Form des Mundes zeichnete, lief mir ein weiterer Schauer über den Rücken.

Der zarte Schwung des Amorbogens und die unverschämt volle Unterlippe. Meine Güte! Vollkommen nachvollziehbar, dass man ihn am liebsten ständig küssen wollte.

Mit der Fingerkuppe verwischte ich die feinen Konturen und arbeitete mit dunklen und hellen Schattierungen, um die markante Linie des Kinns und den Nasenrücken darzustellen.

Zuletzt die Haare, was mir immer am schwersten fiel. Wie bekam man es hin, dass die einzelnen Strähnen nicht aussahen wie harte Striche? Weniger ist mehr lautete da der Trick! Hier und da noch ein paar Lichtreflexe - fertig.

Ein gelungenes Bild.

Dazu schoss mir ein Satz durch den Kopf, den ich irgendwo mal gelesen hatte:

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Dazu schoss mir ein Satz durch den Kopf, den ich irgendwo mal gelesen hatte:

Es ist all das schön, was wir mit den Augen der Liebe betrachten.

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