Gone.

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Ich atmete dreimal tief durch und sah hoch zu dem Schild, das am Madison Square Garden hing. ‚Jay Sawyer Memorial Show'. Ich merkte wie mein Körper begann zu zittern, nicht wegen der Tatsache das momentan ein Schneechaos in New York tobte, sondern wegen der Tatsache, dass heute Menschen her kommen würden, für die Jay wichtig war, ohne das er diese Menschen kannte. Ich spürte zwei starke Arme über meinen Schultern. Es waren die meines Bruders. Die Arme der Person, der ich in den letzten zwei Wochen am meisten vertraut habe. Die für mich da war - Bedingungslos. Die mir Sicherheit gab, einfach nur indem sie sich auf demselben Grundstück aufhielt wie ich. Ich lehnte mich seufzend gegen Jake und schüttelte den Kopf.

„Du packst das"-widersprach Jake meiner Geste. Er ließ mich los und wir gingen zusammen durch eine Hintertür in den Backstagebereich. Dom begrüßte uns und schloss mich in eine lange Umarmung.

„Alles wird gut"-sagte er, ehe ich meinen Weg in den Aufenthaltsraum fortsetzte. Auch Tyson und Duff begrüßten mich. Henry erklärte den Jungs irgendwas. Die Tür öffnete sich und Dad kam mit Luney rein. Die kleine sprang auf meinen Schoss und sah sich im Raum um. Sie war einfach nur still. Es war unfassbar schwer und schrecklich gewesen, Luney zu erklären, was mit ihrem Dad passiert war. Ich konnte es nicht verharmlosen, denn die ganzen Medien gingen schließlich nicht an ihr vorbei. Im Radio, im Fernsehen und in der Zeitung, überall wurde es thematisiert. Luney liebte ihren Vater abgöttisch, das war klar. Sie war innerlich zusammengebrochen. Ihre kleine Welt war gebrochen. Sie wusste wie man den Schallplattenspieler bediente und machte oft die Platten von ihrem Dad an. Das war die einzige Möglichkeit, die Stimme ihres Vaters regelmäßig zu hören. Sie verstand zwar nicht, was er sang, aber das musste sie auch nicht. Jay hat oft die Gesellschaft angezweifelt und über die Fassaden erfolgreicher Geschäftsleute gesungen. Er sang immer über das persönliche Glück, nicht über das materielle. Ich glaube, wenn irgendwann Luney die Songtexte verstehen würde, hätte sie einen großen Wortschatz an Schimpfwörtern, aber auch die Ansicht wie ihr Vater gegenüber der Gesellschaft, was nicht unbedingt etwas Gutes bedeuten musste. Ich konnte es nicht ändern und ich wollte es auch nicht.

Henry reichte mir die Ohrschützer für Luney und ich setzte sie ihr auf. Gemeinsam mit Dad und meinem Bruder verschwand sie auf dem Flur. Die drei würden zu den VIP Plätzen gehen und sie die Show ansehen. Die Jungs bildeten ein Kreis, und legten sich die Arme gegenseitig über die Schultern. Dom sah mich an und nickte mir zu.

„Komm Rachel"-er. Ich erhob seufzend und stellte mich zwischen ihn und Duff.

„Jungs, dass was Jay wichtig war, sollten wir in Ehren halten und pflegen. In diesem Fall Rachel und Luney, ok?"-Tyson. Duff und Dom nickten.

„Rachel, nur weil Jay nicht mehr da ist, heißt es nicht, dass wir dich hängen lassen. Du bist ebenso ein Teil von uns, wie Jays Songs"-Dom. Ich nickte.

„Wir gehen da jetzt raus und ziehen das durch! Das was heute wichtig ist, ist den Fans zu zeigen, dass Jays Songs weiterleben"-Duff. Dreimal schrien die Jungs sich gegenseitig an, dann lösten sie den Kreis auf und gingen auf den Flur in Richtung Bühne. Ich folgte mit Abstand und verschränkte meine Arme vor der Brust. Für die Show war extra ein Intro erstellt worden, welches momentan lief. Die Jungs gingen die kleine Treppe hoch und nahmen ihre Gitarren. Dom bekam seine Sticks und trommelte auf einer Instrumentkiste rum. Tommy, einer von der Bühnentechnik gab mir ein Mikrophone. Ich schloss die Augen und hörte der Umgebung zu. Die Jungs betraten die Bühne und stellten sich an ihren Platz. Das Intro lief weiter und man hörte wie Dom begann auf dem Schlagzeug einen Takt vor zu geben. Die Jungs spielten das erfolgreichste Lied von Night Silence ohne Gesang. Die Fans sangen den Text. Die letzten Akkorde verstrichen und mein Puls stieg.

„Wir, wir können die Stimme von Jay nicht imitieren. Wir können die Songs nicht so rüber bringen, wie er es getan hat, was wir können ist, seine Songs am Leben zu erhalten mit der Konsequenz, dass sie nicht so klingen wie mit ihm"-Dom. Das Publikum klatsche und pfiff.

„Heute wollen wir nicht hier sitzen, zu ihm hoch schauen und sagen: „Bitte komm runter". Wir wollen hier tanzen und ihm zeigen: „Danke für deine Lieder, wir werden sie weiter hin in die Welt tragen, damit jeder weiß, wer du warst"! Das soll heute geschehen"-Duff.

„Wir konnten uns noch nicht einigen, wer in Zukunft die Rolle des Frontsängers übernehmen wird, wahrscheinlich wird es niemand werden und der Platz vorne in der Mitte wird immer frei bleiben. Doch heute Nacht, wird Jay vertreten, von Rachel"-Tyson.

Mit zitternden Händen betrat ich die Bühne und stellte mich dorthin, wo eigentlich Jay hätte stehen müssen. Im Rücken, die Band.

„Hallo"-stotterte ich. Die schwarzgekleideten Menschen jubelten kurz und wurden dann wieder still.

„Ihr wollt das ganze Gelaber nicht hören, ihr wollt die Lieder hören und das sollt ihr auch. Ich möchte die Lieder auch hören. Aber ich glaube die Person in dieser Halle, die die Lieder am meisten liebt ist Luney Sawyer."-ich. Wir klatschten alle. Ich entdeckte ein Pappschild in der ersten Reihe, welches mich grinsen ließ. Schnell lief ich zur Kante der Bühne und nahm dem Fan das Schild ab.

„Leute"-ich und hielt das Pappschild hoch.

„Weinen ist ok hier"-las ich vor. Duff spielte den ersten Akkord, Tyson setzte ein und schlussendlich auch Dom. Ich hatte alle Texte auswendig gelernt, wenn ich sie nicht eh schon auswendig kannte. An diesem Abend hatte ich das Gefühl, Jay würde in der ersten Reihe stehen und mir zusehen. Er würde lächeln und mit dem Kopf mitwippen. In einer Hand ein Bier, in der anderen eine Zigarette. Zu seinen Füßen der Husky. Zum ersten mal hatten Jays Lieder eine Bedeutung für mich und umso mehr die Zeit verstrich, umso wohler fühlte ich mich auf der Bühne vor den schwarz gekleideten Menschen. Als ich mich nachdem letzten Lied umdrehte, sah ich lächelnd Dom, Duff und Tyson an. Alle drei lächelten ebenfalls, mit Tränen in den Augen. Ich biss mir auf die Unterlippe, lächelnd, ebenfalls mit Tränen in die Augen. Ich schüttelte unterbewusst den Kopf und sah wieder zum Publikum.

„Schafft ihr es, ein Lied für die Band zu singen?"-ich. Unzählige Hände streckten sich in die Luft und formten sich zum Rockzeichen.

„Was immer es auch ist"-bestimmte ich den Songtitel. Die Jungs spielten ihre Instrumente und die Fans sangen. Ich hockte mich auf der Bühne hin und sah zufrieden zu. Plötzlich kam Luney auf die Bühne gerannt, mit ihren Ohrenschützern auf und ich legte einen Arm um sie. Die Fans schienen erfreut über ihre Anwesenheit zu sein. Das Konzert ging zu Ende und Dom, Duff und Tyson kamen nach vorne zum Rand der Bühne. Dom nach Luney auf den Arm und sie winkte ins Publikum. Und da fiel mir ein, was Jay einmal sagte.

„Ich erinnere mich nicht an Tage, sondern an Momente".

Er hatte Recht. Ich erinnere mich gerne an schöne und traurige Momente mit ihm, aber ich könnte nie sagen, an was für einem Tag es gewesen ist. Aber eins kann ich sicher sagen, an diese Show werde ich mich lange erinnern können.

Weit weg von perfekt.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt