16| Neue Nachbarn

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„Was ist passiert, Clarissa?", fragte er mich ernst, was er mit seinem Blick unterstrich. Bei dem Namen zuckte ich schmerzhaft zusammen, weil direkt ein Bild von Blut vor mir zu sehen war. Das Amüsante in seinem Blick, welches er zuvor gehabt hatte, war verschwunden.

„Bitte nenn mich nicht mehr Clarissa."

Stumm blickte ich auf meine Hände, mit dem Vorsatz, ihm nicht in die Augen zu blicken. In meinem Blickfeld nahm ich ein Nicken wahr.

Ich konnte es nicht ertragen, der Sorge für mich entgegenzublicken und ihm trotzdem die Wahrheit zu verheimlichen. Viel zu sehr befürchtete ich, dass ich damit dem ganzen Geschehnis viel zu sehr in die Augen blicken würde; dass ich in einem Loch versinken würde, voller Angst, Kummer, Wut und Horror. Das wollte ich nicht, unter keinen Umständen.

„Ich kann nicht darüber reden", murmelte ich leise und schloss dabei meine Augen. Ich spürte schon, wie sich Tränen anstauten, da ich leider ziemlich nah am Wasser gebaut war. Und mit nahe, meinte ich wirklich sehr nahe. Dennoch versuchte ich, sie zu unterdrücken, was mir noch recht gut gelang.

Sanft spürte ich seine Hand an meinem Hinterkopf, die mich beruhigend an Aidans Brust zog. Er umschlang seine Arme um mich und schenkte mir damit die allgewohnte Sicherheit, welche ich bei ihm immer verspürte. Aber irgendwie fehlte mir in diesem Moment etwas. „Du brauchst mir nicht erzählen, was passiert ist, ich zwinge dich zu nichts. Aber bitte sag mir, wo du gestern warst, ich habe mir Sorgen gemacht", unterbrach er meine Gedankengänge.

Nach einer kurzen inneren Diskussion entschloss ich mich dagegen, ihn anzulügen: „Ich war bei Nathan, einem Neuen aus meinem Jahrgang. Er hat mich gefunden, als es gewittert hat und ich alleine hinter der Schule saß." Bereits nachdem ein männlicher Name gefallen war, spürte ich, wie mein großer Bruder sich verkrampfte, doch ließ ich mich nicht abbringen.

„Irgendwie hatte er mich dann zu sich nach Hause gebracht, damit ich nicht alleine war, und sich um mich gesorgt. Ich weiß, du bist wahrscheinlich enttäuscht, dass ich mich nicht gewehrt habe, aber -" - „Nein, Claire, es ist alles gut", seufzte er, „ich bin froh, dass er dich gefunden hat. Zwar bin ich nicht von dem Gedanken angetan, dass du bei einem Jungen zuhause warst, den du kaum kennst, aber er war für dich da, als ich es nicht sein konnte. Tut mir leid. Ich schulde dem Typen leider was, aber wenn er sich um dich gesorgt hat, kann er ja nicht so schlimm sein, nicht wahr?"

Mit den Worten schob er mich an den Schultern weg und grinste motivierend. Er dachte also, dass ich ihn verteidigen würde, würde er etwas gegen ihn sagen. Oh Gott, ich hoffte sehr, dass er nicht dachte, ich fände ihn toll oder so, das wäre echt eine Katastrophe. Aber ihm von dem Ereignis von heute zu erzählen wäre auch ziemlich dumm. Und wie dumm das wäre.

„Clarissa Violet Lanster!", rief eine Stimme von unten mit einem vorwurfsvollen Ton, „Komm gefälligst runter und putz das Wohnzimmer, wir erwarten Besuch in weniger als zwei Stunden!" Theatralisch seufzend blickte ich ihn mit einem genervten Blick an und wischte mir kurz über die feuchten Augen, ehe ich mich erhob. „Mütter", meinte ich und wollte mich nach unten begeben, als Aidan meinen Namen rief.

„Hm?", murmelte ich zu ihm gewandt. „Wenn du darüber reden möchtest, kannst du immer zu mir kommen, okay? Es liegt mir viel daran, dass du dich nicht selbst davon zerstören lässt. Oder es selbst tust. Außerdem musst du irgendwann darüber reden, es wird sonst nie besser. Manchmal, oder nein, oft muss man über Sachen reden, um mit ihnen abschließen zu können. Außerdem möchte ich nicht, dass du wegen jedem Gewitter Angst vor etwas bekommst. Du kannst Ängste besiegen", meinte er und schenkte mir einen verständnisvollen Blick.

Ich war ihm dankbar dafür. Für alles, was er für mich tat, dafür, dass er für mich da war, er selbst war, einfach mein Bruder war. Mir war bewusst, dass nicht viele so einen großen Bruder hatten, wie ich es tat, darum schätzte ich ihn umso mehr.

Please, not again ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt