4. Er weiß es

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Theresa ist seit heute weg. Das heißt, ab jetzt muss ich mich mit "dem Babysitter" rumschlagen...

Bevor sie sich gestern Abend noch ausgiebig von mir verabschiedete, predigte sie mir vor, wie nett Max doch sei und er sich sogar bereit erkläre, mich von der Schule abzuholen. Als ob ich zu unfähig wäre, um mit dem Bus zu fahren! Ich muss nicht wie ein kleines Kind abgeholt werden. 

Die unzähligen Autos auf dem Parkplatz machen es mir ganz schön schwer das Richte zu finden, indem sich ein 22-Jähriger befindet, den ich das letzte Mal vor 11 Jahren gesehen habe. Ich laufe also, nachdem ich ein paar Sportwagen, der Footballspieler ausschließen kann, ein paar Meter weiter, um mir von den nächsten Modellen ein Bild zu machen. Doch die Mühe kann ich mir gleich sparen. Neben mir taucht plötzlich wie aus dem Nichts ein lächelnder junger Mann, a.k.a. mein entfernter Cousin auf.

"Hey, Lara. Schön dich wiederzusehen!", flötet er fröhlich und kommt ein paar Schritte auf mich zu.

Leicht perplex mustere ich ihn. Seine Gesichtszüge gleichen auf jeden Fall denen, die ich von dem frechen Cousin noch im Kopf habe, aber der Rest erscheint mir ungewohnt. Anstatt eine etwas mollige Figur, steht nun ein muskulöser Körper vor mir. Von seine schwarzen Haaren ist jetzt auch keine Spur mehr. Da hat ihm wohl eine chemische Substanz geholfen, diese heller zu machen.

"Hi!", hauche ich, nachdem ich ihn ausgiebig abgecheckt habe.

"Ich steh' gleich hier. Komm mit!", dabei zeigt er auf einen alten Ford Mustang im hintersten Eck des Parkplatzes.

Etwas gelangweilt folge ich ihm einfach und lasse mich auf dem Beifahrersitz nieder. Als er den Motor startet, ertönt sofort Popmusik aus dem alten Radio. Nur, weil mir das Lied relativ gut gefällt, entscheide ich mich nicht dafür meinen Kopfhörer zu suchen. Es tut gut, dass jemand mal ordentliche Musik im Auto laufen lässt und nicht diese klassische Musik, auf die Theresa steht. Da keimen sich erstaunlicherweise die ersten Sympathiepunkte an.

"Na, wie geht's dir so?", fragt er immer noch bestens gestimmt.

Och nö! Will er jetzt wirklich Small Talk mit mir halten? Reden mit meinen Mitmenschen gehört nämlich nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Also zucke ich stumm mit den Schultern und wage es gar nicht, ihm nach seinem Wohlergehen zu fragen.

Er startet allerdings einen zweiten Versuch: "Freust du dich schon auf das Wochenende?"

"Hmm..ja. Tierisch!", sage ich sarkastisch und schaue gelangweilt aus dem Fenster, das mir den Blick auf vorbeihuschende Autos gewährt.
Er soll ja nicht denken, dass ich freiwillig zu einem 'Babysitter' zustimme. 

"Wir könnten ja übers Wochenende wegfahren. Vielleicht wieder zurück nach San Francisco. Ich bin nämlich nur ab und zu geschäftlich in LA."

Zurück nach San Francisco? Nur über meine Leiche! Da können mich keine 10 Pferde hinbringen! Allein, wenn ich an unser altes blaues Haus denke, wo vermutlich immer noch der Putz an der Seite abbröckelt.... Meine alte Schule. Meine alten Freunde, mit denen ich den Kontakt abbrach. O...oder Jacks kleines Appartment, in dem ich... NEIN!

"Nur über meine Leiche.", flüsterte ich, ohne ihm eines Blickes zu würdigen. Mit so einer schwachsinnigen Idee hat er keine Aufmerksamkeit verdient. Und da sind die paar Sympathiepunkte auch schon wieder dahin...

"Ich weiß es ist nicht leicht, wenn du zurückkehren würdest, aber vielleic..."

"Hör auf!", unterbreche ich ihn kaltherzig. Unter keinen Umständen werde ich ein Gespräch über meine Vergangenheit mit ihm führen! Der hat sie doch nicht mehr alle!

Mein kalter Blick liegt immer noch auf ihm. Er bemerkt meine Abneigung wohl, da er tief seufzt und weitere Gespräche Gott sei Dank vermiedet.

In der Villa angekommen schmeiße ich meinen Schulrucksack, der heute, dank den ein Dutzend Hausaufgaben, schwer auf meinen Schultern drückte, in meine Zimmerecke. Max habe ich einfach im Flur stehen gelassen, denn wie ich meine Tante kenne, hat sie Max bereits eine Roomtour gegeben. Sie hat ihn sicher schon über alles informiert, also werde ich auch keine gelogene Gastfreundschaft vorgaukeln.

Um ca. 17 Uhr packe ich meine kleine Tasche und hänge sie mir um meine immer noch gereizte Schulter. Mit schnellen Schritten gelange ich nach unten, wo ich schon Max vor dem Fernseher vorfinde. Und auch schon ein Blick genügt, um festzustellen, dass er sich nichts Lehrreiches reinzieht, sondern irgendeinen Assi-Mist. Ich bin mir sicher, dass Assi-TV genau seinem IQ entspricht.

Flüchtig spucke ich die Worte "Bin weg" in seine Richtung und drücke schon die kalte Klinke der Hintertür runter, als er mich veranlasst innezuhalten.

"Du gehst nirgendwo hin!", schreit er mir hinterher und ich habe schon das Gefühl mich verhört zu haben. Ich meine, habe ich irgendwie verpasst, dass er mein Vater ist, der mir so etwas verbieten konnte? Ich glaube nicht! 

Langsam drehe ich meinen Körper zu ihm und starre ihn böse an.

"Ich gehe hin, wo ich will!", protestiere ich starr und wende meine verengten Augen nicht von dem irritierten Max ab.

"Ich hab hier die Verantwortung und das heißt auch, dass ich das entscheiden kann!", erklärt er siegessicher und schwenkt dabei seinen Zeigefinger hin und her, um den Eindruck eines strengen Elternteils zu bezwecken. Von dem netten und gesprächsfreudigen Cousin scheint nichts mehr übrig geblieben zu sein. 

Eine ganze Weile starren wir uns wütend an, bis er plötzlich aufsteht und permanent vor mir steht. "Hör zu Lara: Theresa hat nichts davon erwähnt, dass du heute Abend weg bist und ich habe ganz ehrlich auch kein Bock dich halb betrunken von irgendeiner Hausparty abzuholen", seine Stimme klingt etwas versöhnlicher.

"Du glaubst, dass ich mich auf einer Hausparty betrinke?", hacke ich ungläubig nach, denn das Letzte, dass mir in den Sinn kommen würde, sind die Worte "Party" und "Alkohol".

Entschlossen nickt er, was mich aufschnaufen lässt. Mir wird immer mehr bewusst, wie ätzend er ist und wie ich Theresa doch für ihre liebliche Art wertschätzen sollte.

"Wenn du so informiert wärst, wie du glaubst es zu sein, dann müsstest du wissen, dass ich jeden Tag runter ans Meer gehe", fauche ich ihn wutentbrannt an.

"Lara, glaub mir, ich bin informiert", er macht eine Pause, in der seine tiefen Züge weicher werden. "Ich weiß, was in Jacks Appartement geschehen ist und deshalb lasse ich dich ganz sicher nicht irgendwo hin, wo du unter keiner vertrauenswürdigen Beaufsichtigung bist.", diesmal höre ich heraus, dass seine Stimme einen gewissen Hauch von Mitleid in sich trägt.

Blitzartig bleibt mir die Spucke weg. Die Luft aus meiner Lunge entweicht und mein Mund fühlt sich so trocken wie nie an. Auch wenn ich versuche Spucke zu produzieren, gelingt es mir nicht. Ein flaues Gefühl in der Magengegend macht sich bemerkbar und ich versuche mit all meinen Sinnen einen Gedanken daran zu verhindern. Ich ertappe mich sogar, wie meine Hände leicht zittern und ich sie deshalb schnell hinter meinem Rücken verstecke. Es ist als würde alles in meinem Körper in Panik verfallen. Selbst mein Herz spielt plötzlich verrückt. Es schlägt und schlägt und schlägt. Und das nicht aus Freude. Eher aus Angst.

"Was?", wispere ich eher zu mir selbst und traue mich auch nicht mehr ihn anzusehen. Mein freches Selbstbewusstsein ihm gegenüber scheint verschwunden. Mein Blick richtet sich starr auf den Boden. Das Einzige, woran ich gerade klar denken kann ist, das gleichmäßige Atmen nicht zu verlernen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hebe ich meinen schmerzenden Kopf, als er seine Stimme wieder findet: "Ich...eh...ja. Theresa hat es mir erzählt. Ich bin sicher, dass du darüber nicht reden möchtest, aber wenn doch, kannst du mich immer erreichen." Seine rechte Hand fährt in seinen Nacken, wo er sich mithilfe dieser nervös kratzt, "Eh...ja und deshalb bleibst du hier." Ganz so selbstsicher scheint er auch nicht mehr zu sein. Da haben wir ja endlich etwas gemeinsam...

Es schockt mich bis ins Knochenmark, dass er Bescheid weiß.
Doch wenn ich ehrlich bin, überwiegt die Wut dann irgendwann.
Ob es die Wut auf meine Tante ist, die es doch tatsächlich gewagt hat, so etwas einem Typ zu erzählen, den ich im Grunde null kenne, oder ob es die Wut auf Max ist, der so tut, als müsse er mich beschützen, weiß ich nicht genau. Es ist, wie alles in letzter Zeit, absurd. 

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