37. Nicht darüber hinweg

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"Wie war sein Name?" Ich erschrecke mich gewaltig, als ich Scarlett neben dem beruhigenden Meeresrauschen höre. Fast schon hatte ich vergessen, dass sie neben mir sitzt und mir schon die ganze Zeit geduldig zuhört. Sachte hebe ich meinen schweren Kopf und mustere sie. Vereinzelnde Sonnenstrahlen fallen direkt auf sie und lassen ihr langes, schönes Haar wie Gold funkeln – ein perfekter Kontrast zu ihren rosigen Lippen, die noch immer leicht lächeln. Auch, wenn mein kleines Schmunzeln aus Dankbarkeit unangebracht sein könnte, trage ich es auf den Lippen. Sie soll wissen, wie sehr sie mir hilft und wie sehr ich das schätze.

"Tristan. Er hieß Tristan Reed."

Sie nickt leicht und legt in der gleichen Sekunde wieder ihre warme Hand über meine Schulter. Dann herrscht für ein paar Minuten Stille. Wir beide schauen auf das glitzernde Meer und atmen die tiefe Salzluft einige Male hörbar ein.

"Entschuldige, wenn ich das frage, aber...", sie stockt, fängt sich aber rasch wieder, "...aber: Wie schaffst du das nur?"

Verwirrt schaue ich in ihre mitleidigen Äuglein. "Was meinst du?"

"Na, wie hast du es geschafft, je darüber hinwegzukommen?", sie streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht, ehe sie mir intensiv in die Augen sieht, „Je wieder Vertrauen...in Männer zu gewinnen?"

"I-ich glaube ich...", konfus runzele ich die Stirn und fahre mir durch die braunen Haare. Eine kleine, dünne Strähne verirrt sich infolgedessen vor meinem Auge und versperrt mir die Sicht. „...Ich habe einfach versucht..." Verwirrt schaue ich zu Boden, brauche kurz einen Moment, ehe ich leise zu wispern beginne: „Ich...Ich glaube, ich bin nie wirklich darüber hinweggekommen." Erst während ich diese Worte ausspreche, wird mir deren Bedeutung tatsächlich bewusst.

Scarlett wartet einige Sekunden ab, als ich jedoch weiterhin still und nachdenklich bleibe, traut sie sich nachzuhaken: „Wie meinst du das?" Mein Herz beginnt nervös aufzupochen.

„Ich war nie...nie in der Lage, Männern je wieder derart zu vertrauen. Ich habe bei jedem unbekannten Kontakt die Flucht gesucht, um nicht wieder verletzt zu werden. Nur einmal, da war es anders. Logan, meinen Freu...Ex-Freund..." Augenblicklich setzt mein Herz aus. Schnell senke ich den Blick, schüttele für einen Moment den Kopf und versuche fortan etwas klarerer Gedanken zu fassen: „Als ich ihn traf, war es irgendwie anders. Ich fühlte mich zu ihm...hingezogen. Und er ließ mich vergessen, dass Tristan je existierte."

Dann erwische ich mich dabei, wie ich zufrieden zu lächeln beginne. Doch innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde verschwindet dieses Lächeln wieder. Meine Tränendrüse beginnt schmerzlich zu drücken. „Bis gestern Nacht..."

Scarlett spannt sich spürbar beschützend an. „Entschuldige, wenn ich zu weit gehe, aber...hat er dir wehgetan?", ihre Augen werden dunkler, „Ich meine, so wie...Tristan?"

„Ja. Eh nein! Ich meine...ich..." Mein Herz klopft nervös, als Scarlett irritiert ihre Augenbraue anhebt. „Er hat mir nicht das angetan, was Tristan getan hat. Wir waren kurz davor, aber...aber, ich... habe dafür gesorgt, dass es nicht dazu kommt. Ich hätte es ja überhaupt nicht erst so weit kommen lassen sollen." Ich spüre, wie meine Hände zu zittern beginnen.

„Hat er es versucht?" Meine Augen treffen auf Scarletts beunruhigten Blick.

„Nein", wispere ich und starre verwirrt zu Boden. „Nein. Ich...ich glaube, wenn ich ganz ehrlich zu mir bin, dann wollte er das auch gar nicht." Ich spüre, wie sowohl ich als auch Scarlett zunehmend verwirrter werden. „Ich weiß nicht. Ich fühlte mich in dieser Situation einfach wieder so, wie mit ihm. Ich dachte, er will mich auf die gleiche Weise wie Tristan zerstören. Ich kannte es ja nicht anders. Aber..."

Irritiert schaue ich auf das weite Meer hinaus. Es dringen so viele Emotionen und Gedanken auf mich ein, dass mir fast schwindelig wird. Gott, kann es sein, dass Logan an all dem vielleicht gar nicht schuld ist? Dass er mir weder das Herz brechen wollte, noch mich ausnutzen wollte? Wird mir erst jetzt bewusst, warum ich tatsächlich vor ihm weggerannt bin?

Scarlett haucht leise: „Aber?" Beim Klang ihrer hoffnungsvollen Stimme, ermahne ich mich wieder klare Gedanken zu fassen.

„Aber... vielleicht wollte ich es nur glauben, weil...", eine Träne rinnt unverhofft meine Wange hinunter, „...weil ich eben nie über Tristan hinweg gekommen bin. Vielleicht kam ich nicht mit dem Gedanken klar, dass Logan nicht der Bösewicht in dieser Geschichte ist."

Augenblicklich rollen erneut Tränen über mein Gesicht. Scarlett nimmt mich verständnisvoll in den Arm und ich drücke mich fest an ihren beschützenden Körper. „Ich meine, vielleicht ist das auch das Problem die ganze Zeit über gewesen. Ich war nie in der Lage eine Beziehung mit irgendjemand zu führen, weil ich nicht über Tristan hinweg bin, oder?" Ich schlucke einen tiefen Kloß in mir herunter und verfalle in eine nachdenkliche Stille. Wollte ich vielleicht immer vor Logan wegrennen, weil ich unbewusst wusste, dass eine Beziehung scheitern würde? Weil ich wusste, ich würde ihn verletzten? Ist es vielleicht alles meine Schuld? Hat Logan nicht jemanden verdient, der ihm die Liebe geben kann, die er braucht? Hat er nicht jemanden aus seiner Welt verdient? Jemand Besseren?

Mein Herz beginnt sich schmerzhaft zusammenzuziehen, weil ich endlich die Wahrheit erkenne. „Ich meine, das, was passiert ist, ist doch der ultimative Beweis dafür, dass ich unfähig bin, eine Beziehung zu führen. Dass so etwas nicht funktionieren kann, oder?"

Entgegen meiner Erwartungen schweigt Scarlett plötzlich ungewöhnlich lange. Konfus sehe ich in ihre eisblauen Augen, kann jedoch keinerlei Reaktionen in ihnen ablesen. Kurz vor der Grenze, des peinlichen Anstarrens senke ich meinen Blick wieder. Mit jeder Minute, in der man nur das Meeresrauschen zu hören bekommt, werde ich hitzig nervöser. 

"I-ich...", setze ich an, nachdem ich die nervenaufreibende Stille nicht mehr aushalte, "Ich bin gar nicht in der Lage je wieder einem Mann derart zu vertrauen. Das mit uns hätte gar nicht funktionieren können! Ich bin schließlich noch lange nicht über Tristan hinweg." Und schon wieder machen ihrer voll geschwungenen Lippen keine Anstalten sich zu öffnen. Was ist denn nur los mit ihr?

"Es ist besser so, dass es jetzt vorbei ist. So jemanden wie mich hat Logan nicht verdient. Verstehst du, Scarlett?", hake ich vorsichtig nach. Ich brauche ihre Ratschläge wieder. Sie sind irgendwie hilfreich.

Ich scheine ihre stille Starre wohl kurzzeitig aufgehoben haben, als sie ihren Mund doch öffnet: "Nein."

"Wie nein?", platzt es aus mir empört heraus, während ich meine Augenbrauen verwirrt zusammen ziehe. Was hat sie denn so plötzlich?

Anstelle einer plausiblen Erklärung, kann ich nur mit geöffnetem Mund und fassungsloser Miene dabei zusehen, wie sie sich ausgelassen streckt und dann schließlich erhebt. Seelenruhig packt sie ein paar Sachen in ihre kleine braune Tasche und sieht auf mein verdutzest Äußeres herunter. "Nein. Tue ich nicht. Aber um ehrlich zu sein, glaube ich, dass du es auch noch nicht verstehst."

Und bevor sie auf dem Absatz kehrt macht, dreht sie sich kurz davor nochmals um. Ihr mitleidig, verständnisvolles Gesicht hat sie endlich wieder aufgesetzt, was mich irgendwie nicht gänzlich verloren fühlen lässt. Sie kommt zu mir herunter, nimmt mich für ein paar kurze Sekunden in die Arme und wispert leise: "Danke für dein Vertrauen. Du solltest allerdings nochmals darüber nachdenken. Allein."

Bestürzt öffne ich meinen Mund, bekomme aber nur einzelne Vokale heraus und sehe zu, wie sie im goldenen Sand davon stapft.
"Wenn du zu einem Ergebnis gekommen bist, komm' hoch. Ich bestelle Pizza", schreit sie kurz bevor sie ganz verschwindet.

Daraufhin seufze ich der heruntergehenden Sonne, die den Himmel in ein orange-lila-rotes Farbenspiel versetzt und langsam hinter dem türkisfarbenen Wasser untertaucht, entgegen.

Vielleicht sollte ich wirklich nochmals darüber nachdenken...

Baby don't hurt meWhere stories live. Discover now