6. Du bist Niemand

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Weil ich davon ausgehe, dass wir uns um die gleiche Uhrzeit wie gestern treffen, schleiche ich mich wieder gegen 18 Uhr aus dem Haus. Inständig hoffe ich, dass Max von all dem nichts mitbekommt. Aber irgendwie hege ich Vertrauen in seine Dummheit, was meine Schuldgefühle verschwinden lässt.

Entschlossen ziehe ich meinen Rucksack mit dem Physikbuch enger an meinen Rücken und laufe die paar Schritte auf den Strand zu. Die jungenhafte Silhouette am Strand springt mir sofort ins Auge und lässt mein Herz höher schlagen.

"Hi", flüstere ich. Als er mich sieht, zucken nicht nur seine, sondern auch meine Mundwinkel nach oben.

"Hey, Lara. Alles klar?"

Schüchtern nicke ich und lege währenddessen meinen Rucksack auf eine Decke im Sand.

"Schön", quittiert er dies und lässt sich auf den Boden nieder. "Um welches Thema geht es?", schießt es aus ihm heraus, was mich leicht erstaunt. Ich meine, klar wir haben uns zum Lernen getroffen, aber dass wir gleich zum Lernen kommen würden, war eigentlich gegen meine Vorstellungen.

"Grob gesagt elektromagnetische Schwingungen. Die Aufgaben gehen einfach nicht in meinen Kopf rein", dabei zeige ich auf die aufgeschlagene Seite meines Buches. Logan wirft einen prüfenden Blick darüber und kneift seine Augen grübelnd zusammen. Selbst wenn er das tut, kann ich ihm nicht widerstehen. Er sieht so heiß aus.

"Hm. Ja, es ist schon ewig her, aber ich glaube, ich kann mich noch daran erinnern."

"Bist du denn nicht mehr auf der Highschool?", frage ich verwirrt, wende meinen Blick aber nicht von dem Buch ab.

"Ne. Letztes Jahr habe ich meinen Abschluss gemacht", kommt lässig über seine Lippen. Das veranlasst mich dazu,  meine Nase aus dem Buch zu entfernen und in seine brauen Augen zu sehen. Er hat seinen Abschluss also schon? Das bedeutet er ist ein Jahr älter als ich... Gut zu wissen!

"Auf welcher Schule warst du?" Wieder stecke ich meine Nase in mein Buch und zucke zusammen, als ich seine Antwort vernehme. "In der John O'Connel High School in San Francisco." Augenblicklich fährt mir ein Schauer über den Rücken. Die John O'Connel High School in San Francisco ist keine geringere, als meine, die ich vor fast zwei Jahren verließ!

"Du hast in San Francisco gelebt?", frage ich überrascht.

"Ja, aber nur für ein paar Jahre. Fürs College und meine Familie bin ich nach LA gekommen."

Automatisch wächst bei mir die Neugier und ich habe das Gefühl, ich müsste alles über ihn wissen, sonst würde ich platzen. Ich denke gar nicht mehr an die lästigen Physikaufgaben, sondern nur noch an Logan.

Auch wenn die Stadt hunderte Tausend Einwohner beherbergt, schleicht sich die Frage in meinen Kopf, ob ich ihn vielleicht schon eher gekannt habe. Ob ich ihn schon mal in der Schule gesehen habe, oder ob wir vielleicht sogar schon einmal ein paar Worte miteinander getauscht haben?

Aber im nächsten Moment erinnere ich mich wieder an das schlechte San Francisco. An mein 14-jähriges Ich. An den 23. Oktober. An den Umzug in das Haus meines Onkels. An seine Lippen. An die Dunkelheit. An den Grund, warum ich nicht mehr auf diese Schule gehe. Warum ich nun hier bin. Die guten Erinnerungen an meine einstige Heimatstadt verschwimmen im Regen der schlechten Erinnerungen. Im Regen an jenen Oktobertag, an dem sich alles veränderte. Der Regen, der sich mit meinen Tränen vermischte, und genau wie mein Tränenfluss keinen Gedanken daran verschwendete aufzuhören. Die salzige Tränenflüssigkeit bahnte sich schleichend weiter ihren Weg meine Wange herunter und brannte wie Feuer auf meiner unterkühlten Haut.

Auch wenn ich das Gefühl hatte, ich hätte meine Tränendrüse schon für mein ganzes Leben überbeansprucht, wird mir gerade bewusst, dass dies nicht so ist. Denn plötzlich kitzelt es in meiner Nase und meine Augen werden feucht.
Bei der Vorstellung, dass Logan mich so sehen könnte, wird mir jedoch speiübel. Also blinzle ich mutig meine Tränen weg.

Baby don't hurt meWhere stories live. Discover now