Kapitel Zwei, Alecia

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Ich löste meine Hand aus der des Rebellen und beschleunigte meine Schritte. Die Angst, dass die Wächter uns trotz meines gelungenen Ablenkungsmanövers doch noch verfolgten, ließ mich nicht los. Ich wollte weg von hier, am liebsten weg aus dieser Stadt, wenn es ein "Weg aus dieser Stadt" gegeben hätte.

Nichts gegen Maven. Aber ich war definitiv nicht begeistert von der Aussicht, mit einem Rebellen zusammen in einer offiziell leerstehenden Wohnung zu leben. Noch dazu mit einem Rebellen, dessen Plan, einen dramatischen Tod zu sterben, ich soeben offensichtlich gehörig vermasselt hatte.

Aber das tat hier wohl nichts zur Sache. Wenige Minuten später fand ich mich in Mavens Wohnung wieder. 

Es roch nach Staub und alten Lebensmitteln, von denen ich nicht wissen wollte, wie lange sie schon herumstanden. Es war nicht geputzt, nicht aufgeräumt und nur spärlich eingerichtet. Meine Begeisterung fiel noch einige Stockwerke nach unten. Hier sollte ich leben?

Ich hätte mich selbst nicht als sonderlich anspruchsvoll bezeichnet, aber in so einer Wohnung konnte man doch nicht wohnen, wenn einem Unordnung nicht völlig egal war. 

"Ich schlafe auf der Couch, dann kannst du das Bett haben", sagte Maven. Die ganze Situation war ihm sichtlich unangenehm und ich fragte mich, ob er sich für seine schmutzige Wohnung schämte. Ich an seiner Stelle hätte es getan. 

"Kommt nicht in Frage", protestierte ich. "Ich will doch nicht in deinem Bett schlafen."

Er zog die Augenbrauen hoch. Setzte zu einer Antwort an, öffnete den Mund, schloss ihn wieder. "Gut", sagte er dann. "Dann schläfst du auf der Couch."

Eine Weile herrschte unangenehmes Schweigen. Wir standen beide da, sahen auf die leeren Pizzaschachteln und schmutzigen Socken auf dem Boden hinunter und dachten fieberhaft darüber nach, wie wir unsere Gedanken in Worte fassen sollten. Zumindest mir ging es so. 

Maven schien vor Wut innerlich zu kochen. Wut auf mich, Wut auf diese Stadt, Wut auf sich selbst, ich wusste es nicht. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt; erst als er bemerkte, dass ich ihn ansah, lockerte er sie auf eine Weise, die gezwungen wirkte.

"Setz dich doch", stieß Maven schließlich hervor und deutete auf der Couch, die an der Wand des kleinen Wohnzimmers stand. Als er meinen Blick gemerkte, schaufelte er die Kleidung und die zerfledderten Notizhefte, die darauf lagen, kurzerhand auf den Boden. Ich merkte ihm an, dass er mich am liebsten loswerden wollte. Dass er sich beherrschen musste, um mich nicht anzuschreien. Kurzerhand entschied ich, mich doch nicht zu setzen, auch wenn ich wusste, dass ich ihn damit noch mehr nervte; ich wollte auf einer Augenhöhe mit ihm sein.

"Also, du wolltest sterben", nahm ich unsere Unterhaltung vom Park wieder auf. Schluss mit dem Rumgestehe und -gestammele. Wir waren doch keine zwei verliebten Teenager aus einem zensierten Buch, also wirklich!

Maven vergrub die Hände in den Hosentaschen und fixierte einen Punkt an der Wand über mir. "Es ging mir nicht ums Sterben", erklärte er. "Es ging mir um die Musik."

"Präziser bitte", forderte ich. Ich hatte vorhin sein Leben gerettet, da hatte ich mir doch wohl eine bessere Erklärung verdient. 

"Ach halt die Fresse!", fuhr er mich an, und da war die Wut. Es war mir beinahe lieber so. So wusste ich zumindest, woran ich war.

"Du hast doch keine Ahnung!", machte er weiter. "Präziser bitte? Wirklich? Ich sag dir mal was ganz Präzises: Du hast alles ruiniert, woran ich gearbeitet habe, nur weil du meintest, irgendetwas besser zu wissen als ich. Okay, ich habe dich aufgenommen, weil ich nicht wollte, dass du stirbst, aber nun spiel dich nicht so auf."

Ich schaute auf meine Füße und merkte, dass ich reflexartig einige Schritte vor ihm zurückgewichen war. Mit einem solchen Ausbruch hatte ich dann doch nicht gerechnet.

"Tut mir leid", murmelte ich ein wenig kleinlaut. "So sollte das nicht rüberkommen. Ich wollte dir nur helfen."

Er seufzte, so als wäre ich ein lästiges Insekt, mit dem er sich herumschlagen musste. "Ich wollte rebellieren. Den Leuten zeigen, dass es noch Menschen gibt, die die Musik lieben. So sehr, dass sie bereit sind, dafür zu sterben. Und ich dachte, dann würden vielleicht andere wieder daran erinnert werden, wie wichtig Musik, Lyrik und diese Dinge sind und dass es falsch war, sie uns wegzunehmen. Und ich habe gedacht, dann würden sie rebellieren."

"Das ist so lächerlich wie feige." Ich stand wieder auf, um ihm zumindest ansatzweise ins Gesicht sehen zu können. 

"Feige? Ich war bereit, zu sterben!" 

Ich nahm ihm seine Verwirrung nicht ab. "Und genau das ist feige. Du wolltest andere die Drecksarbeit erledigen lassen. So eine Rebellion ist keine schöne, friedliche Angelegenheit, und ich denke, das wusstest du genau."

Er sah mich an. Zu meiner Überraschung machte er keine Anstalten, sich zu verteidigen. Oder sonst zu sprechen. 

"Außerdem", fügte ich etwas ruhiger hinzu, "hätte das niemals funktioniert."

Die Muskeln an seinen Armen spannten sich kaum merklich an, als er die Hände zu Fäusten ballte. "Vielleicht hätte es das nicht. Vielleicht hast du recht. Aber ich konnte so nicht mehr leben. Schreib mir nicht vor, was ich zu tun habe."

Ich lachte trocken auf. "Aber du kannst nicht einfach einen dramatischen Tod sterben und damit rechnen, dass die anderen die Drecksarbeit schon machen werden. Das funktioniert so nicht, das kannst du in jedem Roman der Welt, zensiert oder unzensiert nachlesen."

"Willst du mir ernsthaft erzählen, du hast Ahnung von irgendwas, nur weil du ein paar Bücher gelesen hast?"

"Willst du mir erzählen, du könntest eine ganze Stadt verändern, nur weil du tanzen kannst?", schoss ich zurück. 

Er wandte sich ab. Fuhr sich durch die Haare. Seufzte. 

"Nein." Als er sich wieder zu mir umdrehte, war der Ausdruck auf seinem Gesicht entschlossen. "Aber vielleicht können wir es zusammen tun."

"Gut." Ich klatschte in die Hände. "Ich werde es dir beibringen. Ich werde dir beibringen, wie man mit einer Rebellion beginnt."



DANCE oder wie man mit einer Rebellion beginntWhere stories live. Discover now