Kapitel Zweiunddreißig, Arian

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Sie waren umzingelt, aber sie tanzten weiter.

Sie tanzten weiter, weil sie wussten, dass es alles war, was ihnen blieb. 

Sie konnten nicht fliehen; die Wächter hatten sich rund um die kleine Gruppe positioniert. Arian zählte elf. Elf Wächter. 

Doch sie schossen nicht. Sie sahen ihnen zu, mit den gewohnt ausdruckslosen Gesichtern zwar, aber ihre Augen verfolgten jede Bewegung. Arian blickte in die Läufe erhobener Waffen und musste sich zwingen, den Blick wieder abzuwenden. Warum schossen sie nicht? Durften sie nicht schießen?

Dann sah er, wie einer der Wächter seinen Helm abnahm. Wo vorher noch ein undurchsichtiges Visier gewesen war, sah ihm nun ein Paar blaue Augen entgegen. 

Der Wächter ließ seine Pistole auf den Boden fallen, bevor er seine Handschuhe auszog. Die Brust- und Beinpanzer folgten. Nun näherte er sich ihnen in einem engen schwarzen Pulli und einer schwarzen Hose. 

Hätte Arian nicht wegen dem Tanzen vor Erschöpfung gekeucht, hätte er die Luft angehalten. 

Der Wächter stellte sich neben sie und imitierte ihre Schritte, und einen Moment lang stolperte Arian vor Überraschung über seine eigenen Füße, bevor er sich wieder fing. Er sah den anderen Rebellen an, dass sie genau so verwirrt waren wie er, aber sie tanzten weiter. Sie tanzten alle weiter.

Ein weiterer Wächter folgte dem Beispiel seines Kollegen. Und dann noch einer und noch einer und immer weitere, bis nur noch zwei neben ihnen standen und sich ratlos ansahen.

Was war das hier? Arian verstand gar nichts mehr. Das Ganze musste ein Traum sein, andererseits konnte er es sich nicht erklären. Wächter tanzten nicht, erst recht nicht in einer Welt, in der Musik verboten war. Aber diese neun Männer standen um sie herum und tanzten mit ihnen mit. 

Einer der beiden letzten Wächter rief jemanden an, wahrscheinlich um Verstärkung zu fordern. Aber er kam nicht weit. Er hatte kaum sein Phone ans Ohr gehoben, als es ihm einer seiner nicht mehr uniformierten Kollegen aus der Hand schlug. "Lass den Scheiß!", hörte Arian ihn selbst über die laute Musik hinweg rufen. "Es gibt Wichtigeres als diesen bescheuerten Job!"

"Ach ja? Und was denn?", gab der andere in der gleichen Lautstärke zurück. Arian versuchte, sich aufs Tanzen zu konzentrieren, aber er musste den beiden einfach zuhören. Er musste verstehen, was hier vor sich ging. Was die Motivation dieser neun Wächter war, die sich ihnen angeschlossen hatten. Hatten sie sich Rebellen verliebt, so wie Niall? Oder steckte da etwas anderes dahinter?

"Musik!", schrie der rebellierende Wächter seinen Kollegen nun an. "Kreativität! Individualität! Selbstverwirklichung!"

"Vielleicht hast du diesen Job nur angenommen, weil dir nichts übrig blieb, aber meine Arbeit als Wächter ist mein Leben!"

"Das ist mir scheißegal."

Der Wächter in Uniform wollte sein Phone aufheben, aber sein ehemaliger Kollege stürzte sich auf ihn. Er versetzte ihm einen Fausthieb direkt unters Visier und drehte ihm dann die Hände auf den Rücken. 

"Scheiße, Mann, was soll das?" Der uniformierte Wächter rammte den anderen seinen Ellbogen ins ungeschützte Gesicht, und als er ihn losließ, zog er seine Waffe. Es war klar, wer von beiden überlegen war. Der Wächter, der zu den Rebellen übergetreten war, trug keine Schutzvorrichtungen mehr und war nicht bewaffnet. Er hatte keine Chance.

Zumindest allein nicht. 

Denn in diesem Moment kamen ihm die acht Wächter, die zuvor noch in der Gruppe getanzt hatten, zu Hilfe. Arian verfolgte jede ihrer Bewegungen, während sie die beiden anderen Wächter überwältigten, ihnen die Phones wegnahmen und Handschellen anlegten; die Musik und das Tanzen waren in den Hintergrund gerückt, Arians Körper führte die Bewegungen nur noch automatisch aus. 

Erst das leise Echo von weit entfernten Schüssen ließ ihn hochschrecken. 

Scheinbar hatten andere nicht so viel Glück gehabt wie sie. 


DANCE oder wie man mit einer Rebellion beginntWhere stories live. Discover now