Kapitel Zwölf, Alecia

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Inzwischen schliefen wir meist tagsüber und verbrachten die Nacht mit trainieren, rumsitzen und reden. Und natürlich planen. Je mehr mein Plan Gestalt annahm, desto mehr freute und fürchtete ich mich zugleich. Ich hatte genug Bücher gelesen, um zu wissen, dass nicht alle dieser siebzig Leute, die ich inzwischen kennen und mögen gelernt hatte, die Aktion überleben würden.

Ich wünschte, ich könnte sagen, dass mir mein eigenes Leben dabei egal war, aber das war es nicht. Bis zu dem Tag, an dem ich Maven gerettet hatte, hatte ich ein annehmbares Leben geführt. Okay, ich hatte nie richtige Freunde gehabt und einen Großteil meines Lebens in Büchern und den dort beschriebenen Welten verbracht, aber trotzdem. Ich hatte immer von einer besseren Zukunft geträumt. Von einem Leben, in dem ich Freunde hatte, in dem die reale Welt ein bisschen weniger verängstigend und trostlos war. Und nun wusste ich nicht, ob ich überhaupt noch die Chance auf eine Zukunft hatte.

Ich wollte nicht sterben. Keine Rebellin aus irgendeinem Buch hätte das je gesagt, aber ich wollte nicht sterben. Ich hing an meinem Leben. An meinem langweiligen, eintönigen, traurigen kleinen Leben, das jede fiktionale Heldin ohne Probleme aufs Spiel gesetzt hätte. Ich wollte nicht sterben.

«Aleee-cia! Hilf uns in der Küche!» C ließ Mehl über meinen Kopf rieseln und ich fuhr herum.

«Mann, muss das sein? Warum kocht ihr um diese Tageszeit überhaupt noch?» Ich funkelte ihn wütend an. Ich hatte jetzt keine Nerven für so etwas, eigentlich hatte ich die nie. Jemand so anstrengenden wie C hatte ich noch nie kennengelernt.

«Du weißt ja nicht einmal, welche Uhrzeit wir haben», hielt er dagegen. «Und um genau zu sein kochen wir nicht. Wir backen einen Kuchen.»

«Hör mir auf mit dieser bescheuerten Haarspalterei!», fuhr ich ihn an und er wich zwei Schritte zurück, wobei ein wenig Mehl aus der Packung in seiner Hand auf den Boden rieselte.

«Holla die Waldfee, da ist aber jemand wütend!»

Ich sah ihn an. Er musste etwa in Maven und meinem Alter sein und war damit einer der jüngsten der Rebellen. Sein Kleidungsstil war ja das Eine. Aber dieser Ausdruck brachte mich so aus dem Konzept, dass ich einen Augenblick lang schwieg.

«Holla die Waldfee?», wiederholte ich dann. «Was ist das bitteschön für ein Satz?»

Er lachte. «Das haben die Leute vor fünfzig Jahren gesagt, wenn sie sich erschrocken haben. Holla die Waldfee», sagte er in diesem Tonfall, bei dem ich nicht einschätzen konnte, ob er log oder die Wahrheit sagte.

«Vor fünfzig Jahren? 2011? Meines Wissens waren die Leute da schon fortschrittlich genug, dass sie nicht mehr an Waldfeen geglaubt haben.» Ich stemmte die Hände in die Hüfte und er verdrehte die Augen.

«Darum geht es nicht. Das ist nur ein Ausdruck. Wie beispielsweise ... Was zum tomatigen Teppich geht hier vor sich? Hast du schon einmal einen tomatigen Teppich gesehen?»

Ich musste das Lachen unterdrücken. Eigentlich war mir gar nicht zum Lachen zumute, aber was C da sagte, war so absurd, dass ich es kaum zurückhalten konnte. «Was zum tomatigen Teppich? Wo hast du das denn ausgegraben? Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass das Wort tomatig nicht einmal existiert.»

«Gut, das habe ich gerade selbst erfunden. War ein Beispiel. Aber Holla die Waldfee existiert wirklich», verteidigte er sich. «Hilfst du uns jetzt beim Kochen?»

Nun musste ich lachen. So anstrengend fand ich C eigentlich gar nicht mehr. Immerhin hatte er mich aus den negativen Gedanken gerissen.

«Okay, ich helfe euch. Unter einer Bedingung.»

.

«Was zum tomatigen Teppich kocht ihr da?», begrüßten C und ich Maven und Julica, die in der Küche arbeiteten, wie aus einem Mund.

Die beiden sahen erst mich an und dann einander.

«Wir backen einen Karottenkuchen, zum robusten Radieschen», antwortete Maven dann lachend. «Wo habt ihr den Ausdruck denn her?»

Wortlos zeigte ich auf C, der eine Spur aus Mehl hinter sich herzog. Maven schüttelte den Kopf. «Wenn ich mich um Hygiene scheren würde, dann wäre ich jetzt wütend auf dich.»

«Gut, dass du das nicht tust.» C stellte das Mehl neben ihm auf den Herd.

«Maven, kennst du den Ausdruck Holla die Waldfee?», fragte ich.

Maven sah mich an als hätte ich gerade Glitzer gespuckt. «Holla die Waldfee?», wiederholte er.

«Doch, doch, das existiert», sagte Julica. «Haben die Menschen früher gesagt. Warum auch immer.»

«Holla die Waldfee? Warum sollte das irgendjemand sagen?» Maven sah sie entsetzt an.

«Ich bin mir ziemlich sicher, die Rebellen in den Büchern backen keinen Karottenkuchen und diskutieren über Waldfeen», bemerkte ich trocken. «Kann ich irgendetwas helfen?»

«Sicher. Du kannst die Eier aufschlagen. Und wenn du ein Problem mit den Büchern hast, dann musst du eben eines über uns schreiben», sagte Maven schulterzuckend.

«Vielleicht tue ich das wirklich», überlegte ich laut, während ich nach dem ersten Ei griff. «Vorausgesetzt, ich überlebe das hier.»

«Hey, das bringt Unglück!», rief C.

«Zum tomatigen Teppich, das ist mir egal!», erwiderte ich, und dann lachten wir alle.

Vielleicht war es irrelevant, dass mich die Rebellion das Leben kosten konnte. Vielleicht war das hier, dieses bisschen lachen und glücklich sein, das wert, verglichen mit meinem vorherigen Leben.

«Zum pinken Pilz, Alecia, du hast das Ei in die Schüssel fallen lassen!», rief Julica plötzlich und ich sah hinunter. Sie hatte recht. Nicht nur der Inhalt des aufgeschlagenen Eis war in der Mischung aus Zucker und Butter vor mir gelandet, sondern auch seine Schale.

«Holla die Waldfee!» Lachend versuchte ich, die Schale aus der Schüssel zu fischen, aber sie war so rutschig, dass ich mehrere Versuche brauchte, bis alle Stückchen draußen waren.

Es war nach Mitternacht, als der Kuchen fertig war, und es war nicht wirklich ein Karottenkuchen, da wir zu spät bemerkt hatten, dass wir gar keine Karotten hatten. Aber er schmeckte okay. Dafür, dass wir zu viert in der Küche gestanden und mehr gelacht als gebacken hatten, schmeckte er sogar richtig gut.

Wir verwendeten den Ausdruck Holla die Waldfee an diesem Abend sicher noch dreißig Mal, und als ich gegen sechs Uhr morgens ins Bett ging, verabschiedete sich Maven von mir mit den Worten: «Schlaf wie eine Waldfee, Alecia, zum tomatigen Teppich noch einmal!»

Ich hatte mich nie besonders um Freundschaft gekümmert. So lange mich andere Menschen in Ruhe ließen, hatte es mir gereicht. Ich hatte versucht, unsichtbar zu bleiben, und es hatte funktioniert; so etwas wie Mobbing kannte ich nur aus meinen Büchern. Bücher waren immer meine besten Freunde gewesen und es hatte mir gereicht – oder ich hatte mir zumindest eingeredet, dass es mir reichte.

Aber wenn sich so Freundschaft anfühlte, dachte ich an diesem Abend, dann wollte ich mehr davon.

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Sagt mal, mögt ihr C auch so gerne wie ich? :D

DANCE oder wie man mit einer Rebellion beginntOnde histórias criam vida. Descubra agora