Kapitel Neununddreißig, Alecia

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Irgendwann verstummten die Schreie.

Irgendwann waren keine Schüsse mehr zu hören. 

Irgendwann spielte nur noch die Musik leise vor sich hin. 

Ich saß an Maven gelehnt auf Darraghs Sofa und versuchte, den Film auszublenden, der sich in meinem Kopf abspielte. Leichen auf den Straßen. Blut auf Beton. Skrupellose, schießende Wachmänner. Töne, die aus verlassenen Lautsprechern dudelten, die groteske Hintergrundmusik zu einer grausamen Szenerie. 

Es wunderte mich nur, dass sie die Musik noch nicht ausgeschaltet hatten. 

Ich wusste nicht, wie lange wir schon hier saßen. Wie lange die Wachmänner gebraucht hatten, all unsere Leute zu erschießen. Man hätte mir erzählen können, es wäre ein Jahr, und ich hätte es geglaubt. Man hätte mir erzählen können, es wäre nicht einmal eine Stunde, und ich hätte es geglaubt. Zeit war unwichtig geworden, verstrich unbemerkt.

Ich wusste nur, dass jetzt gerade Nacht war. Der Mond schien ins Zimmer, tauchte alles in fahles Licht. Maven neben mir bewegte sich nicht, aber seine Augen standen sperrangelweit offen. Er starrte auf Darraghs Laptop, der immer noch auf einem Tisch vor uns stand. Jetzt in der Dunkelheit war nicht mehr viel zu erkennen, nur einzelne Silhouetten. Manche von ihnen bewegten sich, waren nur kurz im Bild. Andere bewegten sich nicht mehr.

"Was haben wir getan?", flüsterte ich. 

"Was getan werden musste", murmelte Maven, aber ich hörte ihm an, dass er sich selbst nicht glaubte. Menschen waren gestorben, wegen uns. Zu viele hatten einen zu hohen Preis gezahlt - wofür? 

War die Rebellion offiziell ein Erfolg gewesen?

Es klopfte an der Tür und Maven stand auf. "Ich mache auf", sagte er, als ob das nicht offensichtlich gewesen wäre.

Kaum hatte er die Tür geöffnet, stürmte die Person in die Wohnung, die ich jetzt am wenigsten von allen sehen wollte. 

Meine Mutter.

"Alecia! Was hast du getan?", stellte sie mir die Frage, die ich mir wenige Minuten davor selbst gestellt hatte. Nur wollte ich sie von ihr absolut nicht hören. 

"Was hast du getan?", schoss ich zurück. 

Sie schwieg einen Moment. 

"Habe ich einen Fehler gemacht?", fragte sie dann. 

"Ich weiß es nicht. Habe ich einen gemacht?"

Sie zuckte mit den Schultern und ließ sich neben mich aufs Sofa fallen, auf den Platz, wo davor Maven gesessen hatte. Sie legte einen Arm um mich, ich einen um sie, und so saßen wir da, schweigend, uns festhaltend wie zwei Ertrinkende. 

Ich weiß nicht, wie lange wir ins Halbdunkel der Wohnung starrten, aber irgendwann krochen die ersten Strahlen der Sonne über den Horizont und zwischen den uns umgebenden Häusern hervor. Und zeitgleich mit ihnen kehrte Darragh zurück. 

Sein Gesicht war gerötet, aber ein breites Lächeln war darauf zu sehen. "Wir haben es geschafft", keuchte er. Er musste den ganzen Weg bis hierher gerannt sein. "Die Regierung ist bereit, zu verhandeln."

Der Sieg schmeckte bittersüß, aber für einen Augenblick vergaß ich, was seine Kosten gewesen waren. Ich sprang auf und fiel Maven um den Hals. 

Wir hatten, was wir die ganze Zeit wollten. 

Wir hatten einen irrsinnig hohen Preis dafür bezahlt und so viele Fehler gemacht dass es für ein ganzes Leben reichte. Auf Darraghs Laptop wurde nun wieder besser sichtbar, was die Überwachungskameras aufzeichneten. Blut und Zerstörung in manchen der Stadtteile, feiernde Rebellen in anderen. Ich erkannte Zaza, Malorsie und Niall, die gemeinsam mit vielen anderen Leuten triumphierend zu tanzen begonnen hatten, und Tränen schossen mir in die Augen vor Erleichterung. 

Dann erkannte ich Freya, die mit sonderbar verdrehten Gliedern am Boden lag und plötzlich weinte ich aus Trauer. 

"Ihr solltet mitkommen. Ihr alle", sagte Darragh. 

Wir verließen das Haus und gingen durch die Stadt. Ich musste schrecklich aussehen, aber das kümmerte mich nicht weiter. Viel wichtiger waren die Leute um uns herum. 

Ich sah mich um und wollte mich gleichzeitig nicht umsehen. Von irgendwoher hörte ich Musik, eines unserer Lieder. Ich erkannte es sofort, es war das, das Freya uns damals als erstes präsentiert hatte. Fast zeitgleich stimmten wir mit ein, ich, Maven und Darragh. Meine Mutter kannte den Text nicht, aber sie summte die Melodie mit. 

I want to let this melody

Make things again how they used to be.

And after all, I want to believe

In what we are trying to achieve.







DANCE oder wie man mit einer Rebellion beginntTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon