Kapitel Neun, Maven

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Maven war völlig erschöpft, als er sich gegen zehn Uhr abends auf die Couch sinken ließ und die Augen schloss.

Alecia ließ sich neben ihn fallen und stieß ihn sanft in die Seite. "Ich dachte, ich schlafe auf der Couch."

"Ich habe gerade achtundsechzig Menschen Tanzschritte beigebracht. Gib mir eine Minute", stöhnte er. 

"Schon gut. Ist noch was zu essen im Haus?"

"Du bist ganz schön verfressen." Obwohl er müde war, bekam er noch ein schiefes Grinsen zustande.

Der Rippenstoß, der darauf folgte, war nicht mehr so sanft. "Au!" Maven rieb sich die Seite. "Musste das sein?"

"Fragen mit Gegenfragen zu beantworten ist unhöflich. Also, ist noch was zu essen im Haus?" Nun war sie es, die grinste.

"Nein. Außer du willst den Staub in den Ecken essen."

"Nein, danke. Aber da du meine Frage beantwortet hast, beantworte ich auch deine. Ja, das musste sein. Und kannst du jetzt von der Couch aufstehen? Ich würde gerne schlafen."

Er sah sie an. "Du machst mich fertig."

Sie zog eine Augenbraue hoch. "Ich nehme es als Kompliment."

Maven konnte das Stöhnen nicht unterdrücken, als er sich mühsam wieder von der Couch erhob. Sein Körper fühlte sich auf einmal tonnenschwer an, als könnte er keinen Teil davon mehr bewegen. "Kann ich nicht einfach liegenbleiben? Du darfst auch mein Bett haben", beklagte er sich, obwohl er bereits auf den Füßen stand.

Alecia lachte nur. "Schlaf gut." 

"Gleichfalls", knurrte er.

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Gut geschlafen hätte Maven, erschöpft genug dafür war er. Doch kaum war er eingeschlafen, riss ihn ein Schluchzen aus dem Schlaf. Auch das noch! Er hatte ja langsam angefangen, sich an dieses Mädchen zu gewöhnen, aber das? Wenn Maven eines nicht ausstehen konnte, dann war es, wenn man ihn um seinen Schlaf brachte.

Aber da das schluchzen nicht aufhören wollte, stand er wieder auf. Er fuhr sich durch die Haare und zwang seine schweren Beine, ihn zum Wohnzimmer zu tragen - wo Alecia mit offenen Augen auf der Couch lag und weinte.

"Was ist los?", fragte er. 

"Nichts." Sie drehte ihm den Rücken zu.

"Klar. Darum hast du mich gerade mit deinem Weinen geweckt." Maven verschränkte die Arme vor der Brust, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht ansah. 

"Sorry", murmelte sie, und womöglich meinte sie es wirklich ernst. Maven ließ die Arme sinken.

„Was ist los?", fragte er erneut. Dieses Mal drehte sie sich wieder zu ihm um und sah ihn an.

„Ich bin eine Kriminelle. Das ist los", erwiderte sie mit tränenerstickter Stimme. „Ich wollte das alles nie. Ich wollte nie rebellieren."

Maven musste das Lachen unterdrücken. „Ist das dein Ernst? Du hast ein Regal voll illegaler Bücher bei dir zu Hause stehen und spielst Gitarre! Deine bloße Geburt war ein Verbrechen! Du hast schon dein ganzes Leben lang rebelliert."

Sie schniefte. „Meine bloße Geburt war ein Verbrechen?", wiederholte sie. „Du bist ein Arschloch, Maven."

Er hob beschwichtigend die Hände. „Sorry, tut mir leid, so habe ich das nicht gemeint."

Sie sah ihn skeptisch an. „Ach ja?"

„Ja. Wirklich."

„Okay."

Schweigen.

„Aber ich habe noch nie so aktiv rebelliert. So, dass andere Menschen dabei zu Schaden kamen. So wie möglicherweise dein Bruder. Und die achtundsechzig anderen, die wir da mit reingezogen haben", sagte sie dann, und der Gedanke an Elwin ließ Maven zusammenzucken. Es war ihm gelungen, nicht daran zu denken, bis zu diesem Moment. Nun traf ihn die Erinnerung so schmerzhaft, dass er sich wunderte, dass er überhaupt hatte einschlafen können. Wahrscheinlich war er einfach so erschöpft gewesen, dass das, was in seinem Kopf vorging, für seinen Körper keine Rolle spielte.

„Neunundsechzig", korrigierte er Alecia, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte. „Du hast Freya nicht mitgezählt."

„Das ist doch scheißegal", schnauzte sie ihn an. „Schon klar. Du scherst dich einen Dreck um meine Gefühle." Sie drehte ihm wieder den Rücken zu.

„Mann, Alecia, jetzt flipp doch nicht gleich aus. Ja, wir sind Rebellen. Aber das war deine Entscheidung. Ich habe dich jedenfalls zu nichts gezwungen. Du hast begonnen mit diesem ganzen ‚Ich zeige dir, wie man mit einer Rebellion beginnt, weil ich so wahnsinnig klug und gebildet bin.'" Maven merkte, dass er sie nachäffte, und schämte sich sogleich dafür. „Entschuldigung."

Entgegen seiner Erwartungen gab Alecia ein ersticktes Geräusch von sich, das wohl ein Lachen sein sollte. „Du bist ein Arschloch", sagte sie erneut. „Aber du hast recht. Leider."

„Ich habe immer recht", brüstete Maven sich scherzhaft, denn sie zum Lachen zu bringen, war das Einzige, was er glaubte, tun zu können.

Dieses Mal lachte sie wirklich. „Ach ja? Und was war das im Park? ‚Ich lasse mich erschießen und schaue, ob andere deswegen rebellieren'?"

„Du hast keine Ahnung, ob das funktioniert hätte", verteidigte er sich, aber er wusste inzwischen, dass es wahrscheinlich eine blöde Idee gewesen war. Wahrscheinlich begann man tatsächlich nicht mit einer Rebellion, indem man einfach starb. Märtyrer, wie Alecia ihm erklärt hatte, gab es immer erst gegen Ende solcher Geschichten.

Und wenn er daran dachte, wie glücklich Elwin über sein Überleben gewesen war, dann glaubte er umso mehr, dass sie recht hatte. Vielleicht gab es ja doch noch eine Chance, dass sie beide überlebten und das Verbot der Musik dennoch abschafften – wenn es seinem Bruder gut ging.

„Oh doch, die habe ich", sagte Alecia, und Maven brauchte einen Moment, um ins Hier und Jetzt zurückzufinden. Aus der Fassung gebracht, schwieg er einige Sekunden, bevor er hervorwürgte:

„Siehst du, da ist dieser Tonfall schon wieder. Dieser besserwisserische Ich-Bin-Die-Klügste-Person-Der-Welt-Tonfall."

„Wer sagt denn, dass ich die nicht bin?", fragte Alecia, die nichts von seinen Gedanken mitbekommen hatte, lachend.

„Ich."

„Ja, ja, schon klar."

Schweigen.

„Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe. Geh schlafen. Ich komme schon klar."

Maven setzte sich zu ihr auf die Couch. „Mir tut es leid. Ich habe dich in diese Situation gebracht."

„Das stimmt. Aber ist okay. Ich hätte dich nicht zu retten brauchen."

„Warte, was?"

„Das war ein Kompliment." Sie lächelte ihn an. „Wenn ich dich nicht hätte retten wollen, dann hätte ich es nicht getan."

„Ach so. Dann hast du mich also gerettet, weil ich so unglaublich gutaussehend und talentiert war. Gut zu wissen." Er lachte, obwohl ihm immer noch nicht wirklich danach zumute war.

„Nein, ich habe dich gerettet, weil du so unglaublich dumm warst und nicht gewusst hast, dass du umsonst sterben würdest", witzelte sie. Doch dann wurde sie plötzlich ernst. „Ich habe dich gerettet, weil ich jeden Menschen gerettet hätte. Und weil ich ... fasziniert war. Ich wusste, wie Musik klingt, aber ich habe noch nie jemanden dazu tanzen sehen."

„Oh. Okay." Maven fuhr sich durch die Haare. „Danke, schätze ich."

„Gern geschehen."

Sie sprachen so lange miteinander, bis, die Sonne ging bereits langsam auf, Alecia einschlief. Erst da merkte Maven wieder, wie müde er war. So müde, dass er sich einfach neben dem Sofa auf den Boden fallen ließ und so lange schlief, bis Alecias erschrockenes Lachen ihn wieder aufweckte.

DANCE oder wie man mit einer Rebellion beginntWhere stories live. Discover now