Kapitel Sieben, Maven

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Bald wurde beiden klar, dass sie Elwin nicht würden kontaktieren können. Maven fürchtete sich so sehr um seinen Bruder, dass ihm sogar der Hunger verging. Dabei war er vorher echt hungrig gewesen. 

Es fiel ihm schwer, noch an irgendetwas anderes zu denken als daran, was Elwin alles zugestoßen konnte. Wenn ein Wachmann ihn erwischt hatte, wenn jemand ihn verpfiffen hatte ... Alecia sagte, dass er sie womöglich verraten hatte, aber Maven widersprach ihr sofort. Er kannte Elwin. Er hätte so etwas niemals getan. 

Auf seine harsche Antwort hin begannen sie schon wieder mit einer Diskussion, aber Maven war nicht einmal ganz bei der Sache.

Nun saß er auf seiner Couch, den Kopf auf die Hände gestützt, und wartete. Und dachte nach. Und wartete. Und dachte nach. Elwin würde heute Abend kommen, redete er sich ein. Er musste heute Abend einfach kommen. 

"Maven, ich habe langsam wirklich richtig Hunger ...", sagte Alecia irgendwann leise. 

Er seufzte. "Wir können den Leuten heute Abend ja sagen, sie sollen uns beim nächsten Treffen etwas zu Essen mitbringen."

"Und das nächste Treffen dann bitte möglichst bald ansetzen", ergänzte sie. 

Er nickte abwesend, in Gedanken war er schon wieder bei Elwin. Essen interessierte ihn momentan kein bisschen. 

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Als die Leute schließlich kamen, war Maven überrascht von ihrer Anzahl. Eine große Gruppe Leute quetschte sich in seine kleine Wohnung, setzte sich auf das Sofa und auf den Boden und warf ihm immer wieder erwartungsvolle Blicke zu. 

"Achtundsechzig", flüsterte Alecia staunend. "Das sind noch mehr als drei pro Person. Damit können wir was anfangen."

Maven nickte, obwohl er nicht wirklich Ahnung von dem hatte, über das sie sprach. Wenn er es richtig verstanden hatte, wollte sie eine Art tänzerische Protestaktion in verschiedenen Teilen der Stadt organisieren, aber wie genau das funktionieren sollte, wusste er auch nicht. 

"Hallo zusammen", sagte Alecia zu den Leuten. "Danke, dass ihr alle gekommen seid. Danke auch an alle, die hier Freunde und Bekannte zusammengetrommelt haben. Ist irgendjemand hier, der nicht bereit ist, das Tanzen zu lernen und möglicherweise zu sterben?"

Niemand stand auf. Scheinbar waren sie alle vorher schon gut informiert worden. 

"Gut." Sie atmete tief durch; man merkte ihr an, wie sehr diese ganze Situation hier ihr zusetzte. Alecia war kein Mädchen, das Rebellionen anführte. Sie gehörte in ein gemütliches Haus mit Büchern, genügend zu Essen und einem richtigen Bett. An einen Ort, wo sie nicht in Lebensgefahr war. Alecia war keine Rebellin. Es war nur ihre Besserwisserei, die sie in diese Situation gebracht hatte.

"Dann erkläre ich euch jetzt den Plan", sagte sie, und dann erklärte sie den Leuten den Plan, Schritt für Schritt. Maven kam die ganze Sache immer noch ein wenig lächerlich vor. Man konnte eine Rebellion doch nicht mit einer Art To-Do-Liste durchführen. 

Aber wenn sich ihm eine Chance bot, diese Stadt hier zu verändern, dann würde er sie nutzen, egal, wie absurd es ihm vorkam. 

"So, Maven. Bist du bereit, eine erste Tanzstunde zu geben?", fragte Alecia ihn, als sie fertig war.

Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. "Nein. Ich habe nicht einmal Musik, meinen Lautsprecher habe ich im Park gelassen."

"Hör mit diesen versteckten Anschuldigungen auf." Sie funkelte ihn an. "Kann irgendjemand von euch Musik ... produzieren?", wandte sie sich an die Leute. 

Eine ältere Frau stand auf. "Ich kann singen", sagte sie. "Musik machen mit den Mund."

Alecia nickte ihr zu. "Dann fang an", sagte sie. "Und Maven, du erklärst den Leuten am besten mal, was Musik ist und was man dazu macht."

Die Frau begann, leise zu singen. Es war ein altes englisches Lied mit einer schweren, traurig wirkenden Melodie. Sie hatte eine schöne Stimme, wenn jemand, der zum letzten Mal vor fünfzehn Jahren anderen Gesang als seinen eigenen gehört hatte, das beurteilen konnte. 

"Das ist Musik", sagte Maven zu den Leuten. 

Einen Moment lang war es so still, dass man die altsprichwörtliche Stecknadel hätte fallen hören. 

Dann begannen die Leute, zu klatschen. Die Sängerin sah ein wenig überrascht hoch und lächelte schüchtern, als sie hörte, wie man ihr zujubelte. Der Applaus schien gar kein Ende mehr finden zu wollen. Genug lange, dass Maven sich in Ruhe nach Elwin umsehen konnte. 

Er war nicht da. 

Natürlich war er nicht da, was hatte Maven sich gedacht? Welchen Grund hätte er gehabt, heute zu kommen, aber nicht gestern? Wahrscheinlich keinen. Der Gedanke an seinen Bruder, der irgendwo tot auf einer Straße lag, nahm Maven beinahe die Luft zum Atmen. 

Er redete schnell weiter: "Was ihr gerade gehört habt, nennt sich Singen. Es ist eine Form der Musik. Dann gibt es noch sogenannte Instrumente, mit denen man ebenfalls Musik machen kann. Zum Beispiel kann man trommeln." 

Er nahm einen leeren Teller, den er zuvor auf der Lehne des Sofas deponiert hatte, und begann, einen Rhythmus darauf zu trommeln. "Das klingt jetzt vielleicht nicht nach viel, aber zusammen mit anderen Instrumenten gibt es wirklich schöne Musik."

In diesem Moment erklangen einige Töne und er fuhr herum. Alecia stand hinter ihm, ein kleines Instrument in den Händen haltend, und zupfte an den Seiten. Sie lächelte ihm leicht zu. 

"Wir haben sie mitgebracht", erklärte eine ihrer Schwestern ihm flüsternd. "Wir dachten, sie braucht sie vielleicht."

Alecia spielte eine schnellere Melodie, ihre Hände flogen geradezu über die Saiten. Sie wirkte geübt, sicher, und Maven hatte das Gefühl, selten so etwas Schönes gehört zu haben. Alecia selbst sah auch irgendwie schön aus, wie sie da stand, das Instrument umklammert, und mit konzentriertem Blick ihre Melodie spielte. 

"Das war gerade eine Gitarre", erklärte sie den Leuten, als sie fertig war. "Eine kleinere Version davon."

"Danke, Alecia. Und dann", nahm Maven seinen Monolog wieder auf, "kann man sich auch zu Musik bewegen. Das wird unsere Waffe in dieser Rebellion sein. Wir werden tanzen. Ich werde es euch beibringen."

Sein knurrender Magen unterbrach ihn. 

"Ein anderes Mal. Bitte kommt in ein paar Stunden wieder, nachts, sagen wir um elf. Und bitte bringt jeder etwas zu Essen mit. Wir können die Wohnung nicht verlassen und sind hungrig. Ach ja, und noch etwas: Falls jemand euch anspricht, sagt, ihr wollt eine Wohnungsbesichtigung machen. Offiziell steht diese Wohnung hier leer."

"Und wenn ihr uns verpfeift, dann könnt ihr euch auf was gefasst machen", drohte Alecia, die die Gitarre inzwischen beiseite gelegt hatte. "Egal, wie viel Geld man euch bietet, schweigt einfach, in Ordnung?"


DANCE oder wie man mit einer Rebellion beginntTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon