Kapitel Neunzehn, Maven

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„Alecia?"

„Nein! Lass mich in Ruhe!"

„Ich denke, du solltest den Brief lesen, den C geschrieben hat. Er könnte dir helfen."

„Geh weg!"

„Du bist schon seit zwei Tagen hier drin. Du kannst dich nicht ewig verstecken."

„Wer sagt das?"

„Alle. Mach zumindest die Tür auf."

„Nein!"

Es tat Maven weh, dass es Alecia so schlecht ging. Auch er litt unter Cs Tod, aber sie machte sich deswegen völlig fertig. Kurz nachdem sie ihn gefunden hatten, hatte sie sich im Gästezimmer eingeschlossen, und Maven hätte schwören können, dass er seither fast ununterbrochen Schluchzen von ihrer Seite der Tür gehört hatte.

„Alecia, das macht nichts besser!", versuchte er es erneut. Er wollte sie zum Rauskommen bewegen, um jeden Preis. Er konnte nicht noch einen Menschen verlieren, nicht drei in so kurzer Zeit. Sie gab sich selbst die Schuld für Cs Selbstmord und inzwischen rechnete Maven wirklich damit, dass sie selbst sterben würde. Sie musste völlig dehydriert sein da drin, wahnsinnig hungrig.

„Mir egal!", schrie sie nun.

„Wir brauchen einander. Wir alle. Wir brauchen dich. Ich brauche dich." Maven ließ sich auf den Boden sinken, den Rücken zur Tür. Er konnte nicht mehr. Bisher hatte er seine Gefühle wegen C unter Kontrolle bringen können, aber als er nun Alecia zum wiederholten Mal weinen und schreien hörte, brach es auch aus ihm heraus. Die Tränen rannen stumm über seine Wangen, und anfangs bemühte er sich noch, sie wegzuwischen, doch schließlich gab er es auf und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Es hatte etwas Beruhigendes; er spürte seinen aufgebrachten Herzschlag, fühlte seine Schultern beben, und so lange er sich darauf konzentrierte, konnte er alles andere ausblenden.

„Maven?", kam es plötzlich von der anderen Seite der Tür. Sie klang nun etwas leiser, weicher. „Bist du noch da?"

„Ja." Er bemühte sich, nicht zu klingen, als hätte er gerade geweint, aber er wusste, dass es ihm nicht gelang. „Was ist?"

Alecia schniefte. „Ich glaube, ich brauche euch auch. Gibst du mir den Brief?"

Maven zog das inzwischen völlig zerknitterte Stück Papier aus seiner Hosentasche.

„Halt, mach die Tür nicht auf. Ich will nicht, dass du mich so siehst. Schieb ihn unter der Tür hindurch", kam es von drinnen.

Er tat, was Alecia ihm gesagt hatte. Dann schloss er die Augen. Setzte sich so hin, dass er den Kopf nach hinten gegen das Holz der Tür lehnen konnte. Er zwang sich zum Atmen, zu ruhigen, gleichmäßigen Atemzügen, während er wartete, bis Alecia den Brief gelesen hatte.

Plötzlich begann sie jedoch, laut zu lesen.

„Liebe Alecia", las sie. „Lieber Maven, lieber DJ, liebe Freya, liebe Sheena und liebe Julica, falls du das irgendwann doch noch liest. Zuerst einmal muss ich sagen, dass es mir leidtut. Ich weiß, dass ihr alle erst einmal völlig fertig sein werdet – zumindest bevor ihr begreift, dass ihr besser dran seid ohne mich. Aber darum geht es jetzt nicht, noch nicht. Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich euch angelogen habe und dass ich euch jetzt so wehtue."

Alecia brach ab. Maven hörte, wie sie auf der anderen Seite der Tür mehrmals nach Luft schnappte, bevor sie mit erstickter Stimme fortfuhr: „Euch, den einzigen Menschen, die mich jemals wie einen von ihnen behandelt haben. Eine Weile lang konnte ich die Illusion aufrechterhalten. Eine Weile lang konnte ich so tun, als wäre es wirklich ich, den ihr mögt, Cosmo. Aber die Person, mit der ihr geredet und gelacht habt, war nicht ich."

„Alecia hör auf", flüsterte Maven. Er wusste, dass es ihr vielleicht half, die Worte laut auszusprechen, aber für ihn fühlte sich jedes davon an wie ein frischer Messerstich. Er hatte sie zuvor gelesen, mehrmals sogar, aber das machte nichts besser, wie er jetzt merkte. Frische Tränen fanden den Weg in seine Augen. Er blinzelte sie weg.

Alecia, die ihn nicht gehört hatte, las weiter. „Ich habe C erfunden, weil ich dachte, vielleicht mögen andere Leute ihn lieber als Cosmo. C war schräg, witzig, selbstbewusst. Er war alles, was ich nicht war. Schauspielern ist leicht, zumindest für einige Zeit."

Maven wischte sich über die Augen.

„Zumindest so lange, bis man sich verletzt und das Einzige, was man noch tun wollte, unmöglich wird. Ich hatte damit gerechnet, bei der Rebellion zu sterben, meinem Leben vielleicht sogar absichtlich ein Ende zu setzen, nachdem ich etwas verändert hatte. Nachdem ich eine Weile C gewesen war, den, wie ich merkte, alle mochten. Den ich selbst mochte. Schauspielern ist leicht, aber nur für einige Zeit. Ich kann nicht mehr C sein, und ich will nicht mehr Cosmo sein. Scheiße, Maven, wie konntest du behaupten, das würde mir helfen?"

Der letzte Satz war von Alecia selbst gekommen, kein Zitat aus dem Brief. „Lies weiter", presste Maven hervor, und nun war er sich sicher, dass sie hörte, dass er geweint hatte.

Ein Seufzen. „Okay. Ich habe euch ja schon erzählt, dass weder meine Eltern noch sonst irgendjemand mich wollte. Es tut mir leid, wenn ich euch kurzfristig wehtue, aber eigentlich habt ihr mich nie gekannt. Und ich glaube, wir sind alle besser dran so. (Es tut mir auch leid, dass ich sehr schlecht darin bin, so etwas zu schreiben. Wahrscheinlich versteht ihr nicht einmal, was ich euch sagen will.) Doch kommen wir zum wichtigen Teil. Ihr dürft euch keine Schuld an dem geben, was passiert ist. Es ist nicht eure Schuld. Es ist meine eigene. Ihr konntet nichts tun. Ihr habt alles versucht, aber ihr hättet nichts ändern können, egal, was ihr getan habt. Vor allem du, Alecia. Egal, was ich damals Widerliches gesagt habe, auch ich habe mich freiwillig für diese Rebellion entschieden. Trotz allem. Und ich bin froh darüber. Ihr wart die einzigen Freunde, die ich je hatte, und auch wenn diese Freundschaft nicht echt war, sie war für einen Moment sehr schön. Stürzt diese Stadt, Leute. Zum tomatigen Teppich, werdet die besten Rebellen, die die Welt je gesehen hat. Lasst euch nicht von mir davon abhalten. Das ist das Letzte, was ich will. Es tut mir leid. Cosmo."

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Es war ein Schweigen, als hätte man sämtliche Geräusche aus der Luft gesaugt, als wäre ein Vakuum entstanden, das sich nicht wieder füllen ließ.

Bis Alecia kaum hörbar flüsterte: „Es hilft immer noch nicht."

Maven raffte sich hoch. Bevor sie reagieren konnte, öffnete er die Tür und umarmte sie fest. Er wusste nicht, wer von ihnen beiden es in diesem Moment mehr brauchte – sie oder er selbst.

„Es ist trotzdem meine Schuld", schluchzte sie in seinen Armen. „Egal, was er schreibt."

„Es ist die Schuld von uns allen", flüsterte Maven. „Und deswegen werden wir es auch gemeinsam durchstehen."

DANCE oder wie man mit einer Rebellion beginntWhere stories live. Discover now