Kapitel Dreißig, Maven

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Auf dem Bildschirm sah Maven die Leute überall in der Stadt verteilt tanzen, aber es machte ihn nicht so glücklich wie er gedacht hatte dass es ihn machen würde. 

Er musste hoch auf das Dach. Jetzt. Er musste seine Rede halten und die Leute animieren. 

Aber Alecia war nicht da. 

Maven ging im Zimmer hin und her, seine Haare standen inzwischen in alle Richtungen von seinem Kopf ab, weil er so oft mit den Händen hindurchgefahren war. Dieses Mädchen! Er war gut mit ihr ausgekommen in den letzten Wochen, hatte sie sogar mögen gelernt, aber nun war er wieder genau so wütend auf sie wie damals, als sie ihm im Park das Leben gerettet hatte. Vielleicht sogar noch mehr. Sie vereitelte seine Pläne, schon zum zweiten Mal! Und das nur, weil sie ihre Emotionen ihrer Mutter gegenüber nicht im Griff hatte. 

Maven verdrängte sämtliche Gedanken an seine eigene Familie. An Elwin, dem sie den Umgang mit ihm verboten hatten. Hoffentlich ging es ihm gut. Aber er musste auch an seine Eltern denken, die trotz allem immer noch seine Eltern waren. Seine Eltern, die sich sicher Tag und Nacht Sorgen um ihn machten. Seine Eltern, die jetzt wahrscheinlich irgendwo da draußen waren, die Musik hörten und sich fragten, ob er etwas damit zu tun hatte.

"Maven, du musst da raus. Jetzt. Wir liegen schon hinter dem Zeitplan zurück." Seo, eine blonde Frau um die vierzig, stellte sich ihm in den Weg. "Du gehst jetzt hoch auf dieses Dach."

"Aber ich kann nicht reden! Alecia ist nicht da!", entgegnete Maven, obwohl er wusste, dass es zwecklos war. Er musste die Rede halten, ohne sie. 

Resigniert stapfte er zum Schreibtisch und nahm den Zettel, den er dort abgelegt hatte. Er hatte seinen Teil der Rede darauf aufgeschrieben, die größere Hälfte hatte jedoch Alecia übernehmen sollen. Er hatte ihren Teil nicht, wusste nicht einmal, ob sie ihn überhaupt aufgeschrieben hatte. Und nun musste er es übernehmen. 

Maven atmete tief durch, warf noch einmal einen letzten Blick auf den Bildschirm, nickte Darragh und Seo zu und verließ dann die Wohnung, um die Treppe hoch aufs Dach zu nehmen. Seo folgte ihm, Darragh blieb unten. 

Wenn Maven auch nur wenige Sekunden später gegangen wäre, hätte er auf Darraghs Computerbildschirm gesehen, wie sich Wächter den in der Stadt verteilten Rebellen näherten. 

Aber zu diesem Zeitpunkt stand er schon auf dem Dach, und auch Darragh unten in der Wohnung war zu abgelenkt, um etwas zu bemerken. Er achtete nur auf die Kamera, die nun Maven und Seo einfing. 

Maven umklammerte das Mikrofon, das seine Stimme verstärken sollte, mit verschwitzten Händen. Um ihn herum waren Lautsprecher aufgebaut; die Leute würden ihn in einem großen Umkreis hören. 

"Hallo!", rief er. Prompt drehten sich einige Passanten um und sahen sich einen Moment lang desorientiert nach der Quelle der Stimme um, bis sie ihn entdeckten. 

"Mein Name ist Maven", sagte Maven. "Und ich hoffe, ihr habt die Leute bemerkt, die in der Stadt tanzen. Der Grund dafür ist simpel: Wir wehren uns."

Er blickte auf seinen Zettel, aber die Worte verschwammen vor seinen Augen. "Wir wehren uns", wiederholte er seinen letzten Satz und begriff, dass an dieser Stelle Alecia dran gewesen wäre. Sie hatten die Rede zusammen geübt - was hatte sie noch einmal gesagt?

"Wir haben, äh, genug vom Verbot der Musik", stammelte er. Aus dem Augenwinkel sah er Seo bekräftigend nicken. "Wir haben genug von der Zensur von Büchern. Wir haben genug davon, dass wir zensiert werden. Wir wollen, äh ... Wir wollen ... Wir wollen rebellieren!"

Mehr Leute blieben um das Hochhaus herum stehen. Maven hörte gedämpfte Gespräche, aber er war zu weit oben, um die Worte zu verstehen. 

"Darum, äh, rebellieren wir", sprach er weiter und stellte erleichtert fest, dass er die Worte auf seinem Zettel nun wieder aufgreifen konnte. "Wir rebellieren gegen das Verbot von Musik. Wir rebellieren gegen das Verbot von Poesie. Wir rebellieren gegen die Zensur von Büchern. Wir rebellieren dagegen, dass man unsere Kreativität und unseren Ideenreichtum in Schranken sperrt."

Dann war der Text auf seinem Zettel zu Ende. Hilflos drehte er ihn um, obwohl er wusste, dass die Rückseite leer war.

"Rebelliert mit uns!", rief er und blickte hilfesuchend zu Seo. 

"Das Abspielgerät geht nicht", zischte sie. "Mach weiter."

"Ähm ... Leute, wir müssen rebellieren. Ich hoffe, ihr seht das ein. Denn wenn wir nicht rebellieren, dann müssen wir weiterhin ohne Musik leben. Ich hoffe, ihr habt eine der Darbietungen meiner Kollegen gesehen und vor allem gehört. Denn Musik ... ist toll. Musik ist sehr toll."

"Ich geh runter zu Darragh", flüsterte Seo ihm zu. "Er muss mir helfen. Halt die Stellung hier oben."

Maven merkte, dass seine Beine zitterten. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn; er wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Sämtliche Worte schienen außerhalb seiner Reichweite zu sein. 

Er erwischte sich dabei, wie er nach Alecia Ausschau hielt, aber sie war nirgends zu sehen. Erst recht nicht in dem Getümmel von Menschen, die nun aus ihren Häusern und Bürogebäuden kamen, um zu sehen, was draußen vor sich ging. 

"Also, Musik ist toll und darum rebellieren wir", sagte Maven. Und dann, erschöpft, fügte er hinzu: "Es tut mir leid."

Unten hatten Darragh und Seo inzwischen bemerkt, was los war. 

DANCE oder wie man mit einer Rebellion beginntWhere stories live. Discover now