22. Kapitel

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Nachdem meine Mutter eine gefühlte Ewigkeit auf mich eingeredet hatte, mir sagte, dass ich ein Leben lang Hausarrest bekommen würde, weil ich so lange weg gewesen war und sie zwischenzeitlich sogar dachte, ich würde tot in einer Seitenstraße liegen und nur Minseok sie davon überzeugen konnte, nicht die Polizei anzurufen, wurde mir endlich erlaubt in mein Zimmer zu gehen.

Es war in der Tat schon nach elf Uhr. Es muss also bereits nach acht gewesen sein, als ich das Haus verlassen hatte. Ich sagte während der kompletten Rede meiner Mutter kein Wort und ließ es einfach über mich ergehen ohne richtig hinzuhören oder mich richtig darum zu kümmern, was sie eigentlich sagte. Ich war plötzlich so müde, dass ich der Konfrontation mit meiner Mutter lieber aus dem Weg ging.  Ich saß sowieso am kürzeren Hebel, was das anging. Es wurde alles über meine Kopf hinweg entschieden, da hatte ich kein Mitspracherecht. Zumindest nicht, wenn es nach meiner Mutter ging. Nach dieser Aktion des zu lange wegbleibens durfte ich sowieso nichts mehr sagen. Nie mehr, wenn es nach meiner  Mutter gehen würde. 

Ich lag jetzt bereits seit einer halben Stunde in meinem Bett ohne dass sich ein Zeichen der Müdigkeit in mir breit machte. Ich hatte meine Mutter noch eine Weile in der Wohnung herumlaufen hören, aber seit ungefähr zehn Minuten war es ruhig geworden und auch sie legte sich schlafen. Das sollte ich auch tun, aber so sehr ich es auch versuchte, es schien unmöglich. Ich atmete tief ein und hoffte, dass meine Augenlider schwerer wurden, aber auch das geschah nicht. Meine zahllosen Gedanken wollten einfach nicht aufhören in meinem Kopf herum zu schwirren.

Vor meiner Zimmertür regte sich etwas. Die Tür wurde einen Spalt breit aufgeschoben. Ein schmaler Lichtstrahl fiel in mein Zimmer und erhellte einen Teil meines Bettes. Einen Augenblick dachte ich meine Mutter würde noch einmal  in mein Zimmer kommen, aber dann sah ich eine kleine Gestalt im Türrahmen stehen, die vorsichtig auf mich schaute. Ich seufzte.

"Was ist los, Jitae?", fragte ich im Flüsterton. Wahrscheinlich hatte das 'Gespräch' meiner Mutter ihn geweckt, falls er denn überhaupt geschlafen hatte bei dem ganzen Tumult.

Mit leisen Schritten kam er weiter in mein Zimmer herein und schloss die Tür hinter sich. Ich setzte mich auf.

"Was ist los?", fragte ich erneut, aber Jitae sagte immer noch nichts. Er kam wortlos zu mir unter die Bettdecke gekrochen und kuschelte sich an mich. Jetzt wusste ich überhaupt nicht mehr, was ich sagen sollte. Das mein Bruder so offen nach meiner Nähe suchte, war schon Ewigkeiten her. Wahrscheinlich war es sogar noch bevor er selbst in die Schule kam. Unbeholfen macht ich ihm Platz und legte einen Arm um ihn. Seine dünne Gestalt machte mir in dem Moment bewusst, wie klein er eigentlich noch war und dass ich ihn oft nicht wie das behandelte, was er war. Ein Kind. Ein kleines Kind, das von Deutschland nach Südkorea ausgewandert war und sich hier neu zurecht finden musste. Mir fiel auf, dass  ich mit ihm darüber nie geredet hatte, wie er sich in der neuen Stadt eingelebt hatte. Ich hatte die ganze Zeit andere Gedanken gehabt und meinen kleinen Bruder dabei vollkommen vergessen.

Er fing an zu schluchzen und ich strich ihm langsam über den Rücken. Das schlechte Gewissen machte sich in mir breit. Ich hatte ihn die ganze Zeit über nicht beachtet, wurde mir nun bewusst. Er war nur ein Kind und hatte wahrscheinlich mehr Schwierigkeiten gehabt als ich. Er war immer schüchterner gewesen gegenüber Kindern gewesen, auch wenn er sich mit Erwachsenen besser unterhalten konnte. Es war eine Fassade, die er über die Jahre aufgebaut hatte und die jeden denken ließen,  dass es ihm gut ging, wobei eigentlich genau das Gegenteil der Fall war.

Für einen Augenblick waren alle meine Gedanken in den Hintergrund verschwunden und mir wurde klar, was wirklich wichtig war in diesem Moment.  Es war nicht etwa Yoongi oder Nari oder meine Mutter. Einzig und allein mein kleiner Bruder zählte in diesem Moment.

"Was ist los?" Ich hatte gedacht, dass es eine kleine Frage war, aber in dem Moment in dem ich sie stellte, war es als würde ein Blitz durch die kleine Gestalt neben mir gehen. Er zuckte zusammen und schluchzte nur noch lauter. Mein Hand auf seinem Rücken drückte ihn näher an mich heran.

"Ist ja schon gut. Du musst nicht mit mir reden." Anstatt ihn weiter mit Worten einzuengen schlug ich die Decke fester um seine schmalen Schultern.

"Ich will nicht mehr in die Schule." Jitaes Stimme war schwach und leise und ich hörte ihn kaum, aber seine Worte ließen mich aufhorchen. "Nie wieder." Jitae war eines dieser Kinder, die gerne in die Schule gingen. Er liebte es jeden Tag etwas Neues zu lernen. Damit hatte ich ihn bisher immer aufgezogen.  Es war eine Sache, die ich einerseits nicht verstand, andererseits  aber an ihm bewunderte. Das er sich immer wieder aufs Neue über etwas wundern konnte, fand  ich faszinierend. Ich denke mit dem Alter verlernte man das ein wenig. Wenn man kein Kind mehr war. Ich konnte mich schon lange über nichts mehr wundern, sei es nun irgendetwas Wissenschaftliches oder irgendeine neu veröffentlichte Forschung. Neues Wissen war etwas Alltägliches geworden, ein ewiger Begleiter. Nichts über das  man sich wundern konnte.

Das mich Jitaes Worte nun so wundertern, fand ich einerseits erfrischend, andererseits erschreckend,  gerade weil es um meinen kleinen Bruder ging.

"Sag sowas nicht.", sagte ich deshalb, weil ich nicht wollte, dass seine Kindheit nun vorbei war. Das sie so enden musste. "Du bist immer gerne in die Schule gegangen.", stellte ich fest.

"Das war früher. Jetzt will ich nicht mehr.", schniefte er und mein Herz verkrampfte sich. Dahinter steckte etwas viel Größeres und ich glaubte auch etwas viel Schlimmeres, als der bloße Überdruss am Lernen. Ich hatte Angst weiter nachzufragen, aber ich wusste, dass ich es tun musste.

"Warum willst du nicht in die Schule?"

Er blieb einige Zeit lang ruhig und ich wollte ihm diese Zeit geben. Ich wusste nur allzu gut wie es war in dieser Position zu sein. Unsere Mutter würde ihn jetzt mit Fragen bombardieren,  nur würde ihm das nicht weiterhelfen. Das hatte es bei mir auch nicht. Das was er jetzt brauchte, war einfach nur jemand,  der ihm zuhörte und ihn verstand. Ich war also die perfekte Ansprechpartnerin.

"Wir haben heute keinen Mathetest geschrieben. Ich wollte nur nicht hin, weil..." Er stockte kurz. Er hatte sich zwar dazu aufgerafft zu mir zu kommen, aber das hieß noch lange nicht, dass er auch über das reden würde, was ihn bedrückte. Ich musste  abwarten.

"In der Schule ist so ein Junge...", fing er langsam an und ich schluckte schwer, weil  es genau das war, was ich befürchtet hatte. Ich drückte ihn beschwichtigend. Das ich nichts weiter sagte, schien ihn jedoch zu beruhigen und er sprach weiter.

"Er  ärgert mich immer.  Und er hat alle anderen gegen mich aufgebracht."

Ich wusste wie schwierig es für ihn gewesen sein musste diese Worte endlich auszusprechen.

"Ich will nicht mehr..." Ein neuer Schwall von Tränen brach über meinem Bruder zusammen und ich seufzte tief. Ich hatte  nicht mitbekommen, dass er in der Schule gemobbt wurde.  Ich hatte es einfach nicht gesehen. Wenn ich nun zurück blickte fiel mir auf, dass er in den letzten Wochen ruhiger geworden war. Immer wenn ich hin gesehen hatte,  war er immer noch das fröhliche Kind, das ich von damals kannte gewesen, nur hatte er seine Fassade  so perfektioniert, dass seine wahren Gefühle selbst den Personen nicht auffiel, die ihm am nächsten standen. Meiner Mutter und mir. In diesem Moment schämte ich mich in Grund und Boden.

Ich seufzte noch einmal. "Wir bekommen das schon hin.", sagte ich lediglich, während ich ihn noch einmal besänftigend an mich drückte. Mehr als ihm zu versichern, dass alles gut werden würde, konnte ich in diesem Moment sowieso nicht. Ich konnte jetzt nur für ihn da sein.

Ich legte mich so hin, dass es für ihn, ebenso wie für mich, gemütlich war, und schlang die Decke um uns. Er kuschelte sich noch immer an mich, aber seine Atmung ging nun regelmäßiger und seine Schultern zitterten nicht mehr so stark. Auf meine Worte hin sagte er nichts mehr. Ich wusste nicht, ob er mir  glaubte, dass ich ihm helfen würde, aber ich würde alles dafür tun, dass es ihm besser gehen würde als mir. Nachdem ich ebenfalls dasselbe durchgemacht hatte, was er in diesem Moment erlebte, wollte ich sichergehen, dass er sich nie wieder so fühlen musste, wie in diesem Moment. Nie wieder in seinem Leben.

"Ich verspreche dir, wir bekommen das hin."

Und mit einem Mal  waren alle Gedanken aus meinem Kopf gelöscht und ich glitt wie mein Bruder neben mir in einen traumlosen Schlaf.

Seesaw (BTS Fan-Fiction)Where stories live. Discover now