72. Kapitel

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Ich staunte immer, wenn ich das Genius Lab, so wie Yoongi es nannte, betrat. Mit seinen weißen Wänden, der schwarzen Decke und der Technik, die natürlich im Vordergrund stand, strahlte der Raum eine schlichte Eleganz aus. Die Möbel waren alle in schwarz gehalten und allgemein war das Zimmer wenig dekoriert. Hier und da standen ein paar Figuren von Kaws und Bearbrick auf den Regalen - natürlich alles in schwarz. Ein Trikot hing über seinem Schreibtischstuhl. Ich stellte mir vor, wie er seine Zeit hier drinnen verbrachte und welche Musikschätze hier schon entstanden waren. Ich hatte riesigen Respekt davor, was er tat. Allein, dass er fast pausenlos trainierte und arbeitete, machte mich stolz, wenn auch gleichzeitig ein wenig besorgt. Er konnte schließlich nicht immer arbeiten. Irgendwann brauchte er auch seinen Schlaf und seine Ruhe. Etwas, was er sich zu selten nahm. 

Ich zog meinen Mantel aus und hängte ihn auf den Kleiderständer.

"Setz dich.", sagte Yoongi und wies auf das Sofa. Er räumte ein paar Zettel weg oder stopfte sie in sein Notizbuch, dessen Rücken schon fast durchbrach, weil es so überfüllt war. Dann setzte er sich neben mich und legte seinen Arm um meine Schulter. Ich rückte näher an ihn und schlang meinen Arm um seinen Oberkörper. Noch vor einem Monat hätte ich niemals daran gedacht, dass wir irgendwann so nebeneinander sitzen könnten. Ich lächelte ruhig vor mich hin, während Yoongi langsam mit seiner Hand über meine Rücken fuhr und Muster auf meinen Pullover malte.

"Und ich stör dich auch ganz sicher nicht bei der Arbeit?", fragte ich zögernd. Yoongi schüttelte sofort den Kopf.

"Überhaupt nicht."

Kurz drückte er mich fest.

"Wehe du denkst noch einmal so. Meine Arbeit unterscheidet sich in der Hinsicht nicht viel von deinem Studium.", stellte er fest und ich schaute ihn fragend an.

"Wie denn das?" Ich sah keine Parallelen in unserer Arbeit.

"Du hast selbst gesagt: Du bist nie wirklich fertig. Es gibt immer etwas zu tun. Modelle bauen, Pläne überarbeiten. Dir fällt immer etwas ein, was du noch tun kannst. Genau so ist es eben auch mit der Musik. Wir haben nie wirklich frei. Wir müssen uns die Zeit schon selbst nehmen."

Ich seufzte.

"Augen auf bei der Berufswahl.", murmelte ich und Yoongi lachte.

"Solange es Spaß macht." Hoffentlich tat es das. Kaum vorzustellen, was passieren würde, wenn man in zehn Jahren aufwachte und plötzlich keinen Spaß mehr an seiner Arbeit hatte. Das war leider die traurige Realität für viele Menschen, die eigentlich so viel mehr zu bieten hätten, aber irgendwo in einem Büro ihrem Ruhestand entgegen fieberten. Blieb zu hoffen, dass wir davon verschont blieben.

Als wir so da saßen, in Ruhe unseren Gedanken nachhingen und unsere Gesellschaft genossen, dachte ich an Sana. Sie hatte wirklich wütend ausgesehen, als sie unsere Wohnung verlassen hatte. Ich biss die Zähne zusammen. Ich hätte sie so nicht gehen lassen sollen. Ich hätte ihr nachgehen und mich noch einmal bei ihr entschuldigen sollen. Dann würde mich auch kein schlechtes Gewissen plagen. Hoffentlich hatte sie den Zwischenfall bereits verdrängt und konnte den Abend genießen. Wäre es anders würde ich mir nur noch mehr Gedanken machen.

Yoongi bemerkte, dass ich mich verspannte und sah mich neugierig an.

"Ist alles in Ordnung?", fragte er nachdenklich und ich seufzte.

"Eigentlich nicht." Ich setzte mich aufrecht hin, sodass ich Yoongi ansehen konnte. Er hatte fragend eine Augenbraue in die Höhe gezogen. Er sagte nichts, sondern wartete darauf, dass ich von selbst redete. Eine seiner besten Eigenschaften. Er drängte mich zu nichts, sondern gab mir die Zeit, die ich brauchte, um über das zu sprechen, was mich beschäftigte.

Seesaw (BTS Fan-Fiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt