23. Kapitel

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Als ich an diesem Morgen aufwachte, lag Jitae immer noch eng an mich gekuschelt unter der Decke. Es war kurz vor sechs, mein Wecker würde also bald klingeln und ihn ebenfalls aus dem Schlaf ziehen. Ein neuer Tag begann. Für ihn würde das ein neuer Tag in seiner neu gefundenen Hölle sein. Mein Herz verkrampfte sich allein bei dem Gedanken und in meinen Gedanken sah ich mich schon, wie ich meinen Bruder vor ein paar kleinen Grundschülern beschützte. In Deutschland hätte ich das ohne Probleme gemacht, aber hier in Südkorea stellte sich das schon als etwas schwieriger heraus. Die Sicherheitskontrollen zu Beginn eines jeden Schuleingangs ließen immerhin nicht jeden durch. Erst recht nicht, wenn man nicht mehr in das Grundschulalter passte, wie ich.

Als der Wecker lauter losplärrte als ich ihn in Erinnerung hatte, regte sich mein Bruder nur langsam. Er strich sich verschlafen übers Gesicht und schaute mich aus zusammengekniffenen Augen an.

"Guten Morgen.", murmelte ich. Jitae lag lediglich unter der Decke und rührte sich nicht weiter. Ich stupste ihn leicht an.

"Los steh auf."

Ich setzte mich auf und strich ihm in derselben Bewegung durch die Haare, was er eigentlich hasste und ihn normalerweise  immer zur Bewegung ermutigte, aber er schaute mich bloß groß an. Ich glaubte so etwas wie Panik in seinen Augen zu sehen, was mich zuerst verwirrte.

"Bitte, sag es nicht Mama!"

"Dass du hier übernachtet hast?"

Er wurde rot und kniff die Lippen verlegen aufeinander.

"Du weißt schon..."

Ich lächelte sanft. "Ich weiß schon."

Beim Frühstück war es nicht wie immer. Ich bemerkte als einzige wie sehr mein Bruder unter der Situation litt. Wie er uns ohne weiteres etwas vorspielte und so tat als würde es ihm gut gehen, trieb mir an diesem Morgen fast die Tränen in die Augen. Wie konnte ich nur so eine schlechte Schwester sein und nicht sehen, wie es ihm in Wirklichkeit ging? Wie konnte die Frau, die sich immerhin unsere Mutter  nannte, nicht sehen, wie schlecht es ihm ging? Gab es dafür nicht so etwas wie einen Mutterinstinkt? Ihre Alarmglocken sollten allein schon bei seinem Anblick schrill losläuten, aber das taten sie offensichtlich nicht. Jitae musste erst zu mir kommen, um Hilfe zu bekommen.

Ich schüttelte den Kopf. Damit wären wir, neben der Naivität meiner Mutter, auch schon bei Problem Nummer zwei angekommen. Wie konnte ich ihm helfen? Vielleicht sollte ich ihn heute einfach zur Schule begleiten. Als hätte sie meine Gedanken gelesen fing meine Mutter an zu reden.

"Minseok wird euch gleich zur Schule bringen, es gibt nur noch ein paar Probleme mit dem Auto, weswegen er in die Werkstatt muss. Deswegen weiß er nicht, ob er heute nachmittag da sein kann. Kommt ihr alleine klar?"

Ich tat für diesen Moment so, als hätte der letzte Tag gar nicht stattgefunden und tat hilfsbereit.

"Ich kann Jitae auch heute morgen zur Schule bringen, dann kann Minseok das Auto jetzt schon in die Werkstatt bringen.", bot ich an. Die Augen meiner Mutter fingen an zu strahlen.

"Oh Schätzchen, das wäre wunderbar.", sagte sie und strich mir über die Haare. Ihre Wangen waren gerötet. Ein Zeichen dafür, dass sie sich freute, gleichzeitig aber immer noch ein schlechtes Gewissen hatte wegen der tolllen 'Neuigkeiten'.

"Na klar."

Jitae ging schweigend neben mir. Ab und zu warf er mir unsichere Blicke zu und jedes Mal lächelte ich ihm aufmunternd zu. Daraufhin sah er immer schnell weg. Ich grübelte schon den ganzen Weg, was ich tun sollte, wenn wir an der Schule ankommen würden. Sollte ich einfach mit dem Jungen, der meinen Bruder ärgerte reden oder vielleicht besser zu einem Lehrer gehen und mit ihm reden? Nein. Ein Lehrer würde sofort meine Mutter kontaktieren. Und damit hätten wir genau das erreicht, was wir eigentlich vermeiden wollten. Diese Option fiel also leider schon einmal weg.  Damit blieb nur noch die erste Möglichkeit übrig. Na super.

Seesaw (BTS Fan-Fiction)Where stories live. Discover now