Björntjänst

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Lächelnd falte ich den kleinen Zettel zusammen und stecke ihn in das weiße Ei aus Plastik, welches ich sorgfältig verschließe und zu den anderen in das kleine Körbchen auf dem Tisch lege. Das war das Letzte und zufrieden greife ich mein grasgrünes Notizbuch, um meinen Erfolg darin zu vermerken.

Es ist April. April ist grasgrün und obwohl gerade einmal die Hälfte des Monats hinter uns liegt, bin ich bereits beim zweiten grasgrünen Buch. Glücklicherweise sind Henry und ich schon vor einiger Zeit dazu übergegangen, immer einen ganzen Vorrat an Notizbüchern in denselben Farbtönen für mich zu bestellen, so dass kein Mangel auftreten kann.

Nachdenklich blicke ich zu meinem Bücherregal, in dem meine bereits beschriebenen Notizbücher der vergangenen Monate einen beträchtlichen Teil ausmachen und die Buchrücken das Gesamtbild fast wie einen Regenbogen wirken lassen. Nur dass die Reihenfolge der Farben in einem Regenbogen natürlich etwas anders ist als die der Farben, die ich den jeweiligen Monaten zuschreibe.

Diesen Gedanken notiere ich ebenfalls in meinem grasgrünen Buch und schreibe das Wort ‚Regenbogenfarbenreihenfolge' fett darunter. Die Vorliebe für schöne, ungewöhnliche Worte bleibt weiterhin Henry vorbehalten, denn noch immer weiß er stets und ständig ein neues Wort, das zu einer Situation passt, aber er hat ebenso große Freude daran, dass ich selbst mich in Wortneuschöpfungen übe und ihn mit diesen regelmäßig zum Schmunzeln bringe.

Ich stehe auf, nehme den Korb mit den Plastikeiern und blicke mich suchend um. Morgen ist Ostern und wie ich im vergangenen Jahr feststellen durfte, liebt Henry Ostern. Leider war mir das zuvor nicht bewusst und so wurde seine kindliche Vorfreude mit meinem kläglichen Versuch, ihm etwas Passendes zu schenken, in einem einzigen Moment am Boden zerschmettert.

Das Geschenk selbst war perfekt und Henry liebt es bis heute. Ich hatte in einem Geschäft für Künstlerbedarf einen Koffer mit unzähligen Farbtuben in den verschiedensten Schattierungen und Ausführungen gekauft. Das Besondere an dem Koffer ist, dass er zugleich eine Tischstaffelei ist und Henry so an Ort und Stelle malen kann, wenn ihm danach ist.

Einzig und allein die Präsentation meines Geschenks war der Grund für seine folgende Missstimmung.

Am Ostermorgen, als Henry noch schlief, stand ich auf und holte das von mir sorgfältig verpackte Geschenk, um es hinter meinem Rücken versteckt zu halten.
Als Henry augenblinzelnd erwachte, lächelte ich ihn freudig an und mein Herz zersprang fast vor Glück, als er ebenso freudig zu strahlen begann.
Ein Lächeln von Henry lässt auch heute noch sofort sämtliche Kolibris in meinem Bauch zum Leben erwecken.

„Frohe Ostern", verkündete ich stolz und präsentierte ihm mein Geschenk. Augenblicklich erstarb Henrys Strahlen und er blickte mich verdattert an. Verwirrt runzelte ich meine Stirn, er hatte das Geschenk doch noch gar nicht ausgepackt, warum sah er schon so enttäuscht aus?

Ohne ein Wort nahm er das Paket entgegen, packte es aus und lächelte mich an. Das Lächeln erreichte seine Augen nicht und ich wusste, dass irgendetwas nicht stimmte.
„Magst du es?", fragte ich zögerlich und er antwortete: „Ja, es ist toll."
„Aber?"
„Nichts aber. Ich mag es sehr, Maxwell."
Prüfend betrachtete ich ihn, doch Henry erklärte nicht, was den plötzlichen Stimmungswandel hervorgebracht hatte.

Am liebsten hätte ich mich auf die warmen Fliesen im Bad gelegt, um vielleicht beim Grübeln darauf zu kommen, was ich falsch gemacht hatte, doch ich wusste, dass Henry auch ein Geschenk für mich hatte, denn er hatte in den Wochen zuvor ununterbrochen darüber gesprochen. Also blickte ich ihn nur erwartungsvoll an und wartete.

„Was jetzt?", wollte er wissen.
„Naja", murmelte ich verlegen. „Hattest du nicht gesagt, dass du auch was für mich hast?"
Jetzt konnte ich ihm zumindest ein halbechtes Lächeln entlocken und Henry erwiderte: „Ja. Habe ich auch."
„W-Wo ist es?"
„Du musst suchen."
„Was?"
„Du musst suchen, Maxwell", sagte er. „Es ist Ostern. Da werden Geschenke versteckt und man sucht sie."

Wie Schuppen fiel mir mein Faux-Pas von den Augen. Ich hatte Henry mein Geschenk einfach in die Hand gedrückt, dabei hatte er sich seit Wochen auf das Suchen an sich gefreut!

Glücklicherweise konnte ich ihn zumindest mit meiner, zugegebenermaßen amateurhaften, Suche erheitern, denn um ehrlich zu sein, war es für mich das erste Mal, dass ich zu Ostern Geschenke suchen musste.

Meine Mutter erzählte mir später während eines Telefonats, dass meine Eltern nur einmal den Versuch unternommen hatten, meine Ostergeschenke zu verstecken. Damals war ich etwa vier Jahre alt gewesen und bekam einen so heftigen Schreianfall, dass meine Mutter panisch durch die Wohnung lief, um alle Geschenke einzusammeln und die übliche Ordnung wiederherzustellen, damit ich mich wieder beruhigte.
Dass unter den Geschenken Dinge waren, die ich mir sehnlichst gewünscht hatte, war dabei vollkommen zweitrangig gewesen, mich versetzte die Tatsache, dass ein Spielzeugauto in einem Blumentopf steckte, in pure Panik.

Bei meiner Suche nach Henrys Geschenken fand ich zu meiner Erleichterung keine Spielzeugautos in Blumentöpfen, was nicht zuletzt der Tatsache geschuldet ist, dass ich keine Topfpflanzen besitze. Henry hat einmal den Versuch unternommen, mir einen Ficus zu schenken und stellte nach einigen Wochen trocken fest: „Dein Ficus wächst ganz schön knusprig."
Ich bin froh, mich selbst versorgen zu können, wie soll ich da noch das Leben einer Pflanze erhalten?

In diesem Jahr wird auf jeden Fall alles anders. In diesem Jahr bekommt Henry so viel zu suchen, dass er vermutlich nicht mal alles finden wird. Und ich hoffe inständig, dass meine Idee nicht wieder in einem Björntjänst endet.

Das Wort hatte Henry mir hinterher, nachdem ich alle kleinen Päckchen gefunden hatte, erklärt. Er küsste mich auf die Nasenspitze und sagte: „Björntjänst bedeutet, etwas in guter Absicht zu tun, es jedoch in einem Desaster enden zu lassen."
„Du findest mein Geschenk desaströs?", fragte ich und er schüttelte den Kopf.
„Nein, Maxwell. Aber du hättest mir nur fünf dieser kleinen Tuben holen müssen und sie irgendwo versteckt, ich wäre vor Freude aus der Hose gehüpft."

Gerade als ich den Korb mit den kleinen Eiern ganz oben auf den Küchenschrank schiebe und prüfend nachsehe, ob man ihn auch von unten nicht sehen kann, höre ich den Schlüssel in der Haustür. Ein sichtlich müder und mit einigen Farbklecksen versehener Henry kommt lächelnd in die Küche.
„Hey", sage ich und lehne mich hoffentlich nonchalant an unsere Arbeitsplatte. „Wie war dein Tag?"

Henry kommt auf mich zu, legt seine Arme um meine Hüften und seinen Kopf auf meine Schulter. „Schön, aber anstrengend", murrt er müde. „Können wir die Fußbodenheizung anmachen?"
Schmunzelnd streichele ich über seinen Rücken. „Nichts lieber als das", antworte ich.

Wortschatz | ✓Where stories live. Discover now