Schaffenskraft

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„Wie war es bei Dr. Cooke?", fragt Henry mich, als wir später Hand in Hand nach Hause schlendern. Die Rush Hour ist schon vorbei und so sind nur ein paar Leute unterwegs, die sich alle auf ihr Wochenende zu freuen scheinen.
„Ganz okay", erwidere ich. „Wusstest du, dass seine Frau Krankenschwester ist?"
„Elaine?", kommt es von Henry. „Ja, Kinderkrankenschwester, um genau zu sein. Sie haben sich während seiner Assistenzzeit kennengelernt."

„Warum weißt du sowas?", frage ich verblüfft und er zuckt mit den Schultern.
„Wir haben uns darüber unterhalten. Wie kommst du darauf?"
„Ich habe mich gefragt, wie er privat wohl ist und ob Mrs. Cooke auch Psychologin ist", erkläre ich. „Ihr Name ist Elaine?"
„Sie ist ein Jahr jünger als er und sie haben schon lange versucht ein Baby zu bekommen. Jetzt ist sie zu Hause, auf Grund der Schwangerschaft hat sie ein Beschäftigungsverbot und damit geht es ihr nicht so gut", führt Henry aus.

„Ich bin gerade entsetzt", murmele ich. „Warum wusste ich so etwas nicht?"
Henry bleibt stehen und zieht meine Hand, die seine hält, auf seine Hüfte.
„Maxwell, es ist Dr. Cookes Job, mit dir über dich zu sprechen und nicht über sich."
„Aber er spricht auch mit dir über sich."
„Weil ich eine Pochemuchka bin", kichert er und ich muss selbst ein bisschen grinsen.

Er hat recht. Zu Beginn unseres Kennenlernens hat Henry auch mich mit unzähligen Fragen gelöchert und nicht nachgegeben.

„Habt ihr nur über Elaine geredet?", will er nun wissen und ich zucke mit den Schultern, während wir langsam weitergehen.
„Es ging eher darum, dass man für seinen Job gemacht sein muss, denke ich", grübele ich laut. „Er wusste schon als Kind, dass er Arzt wird und meint, dass es bei ihr wohl ähnlich gewesen sein muss. War es bei dir auch so?"

„Ich wollte nie Arzt werden", witzelt Henry und ich sehe ihn fragend an. Ich weiß, dass er einen Witz gemacht hat, aber ich bin mehr interessiert an seiner ehrlichen Antwort auf meine Frage.
„Nun", führt Henry aus. „Ich schätze, als ich klein war, wollte ich wie alle Jungs irgendwas Spektakuläres werden. Astronaut, Feuerwehrmann, sowas eben. Allerdings haben meine Mom und ich auch immer gemeinsam gemalt und diese Momente waren für mich immer die Schönsten.

Als sie nicht mehr da war und mein Onkel Buck nicht wusste, was er mit mir anfangen sollte, kaufte er mir allerlei Künstlerzubehör und gab mir ein altes Album von meiner Mom mit Kunstwerken, die sie während ihrer Highschoolzeit anfertigt hatte. Und so malte ich, probierte Kollagen, Skulpturen, einfach alles, worauf ich Lust hatte. Und anscheinend war das ganz gut. Zumindest sagt Onkel Buck das, wenn er überhaupt mal was sagt. ‚Das sieht ganz gut aus, Harry.'", äfft er die kratzige Stimme seines Onkels nach. „Er kann sich einfach nicht meinen Namen merken."

Henry lacht leise und zuckt mit den Schultern.
„Ich kann es scheinbar ganz gut und ganz ehrlich wüsste ich nicht, was ich sonst tun sollte. Ich liebe Kunst und ich liebe es mich durch sie auszudrücken. Die einzige Alternative wäre, Leuten unentwegt Fragen zu stellen, aber das nennt man wohl Belästigung."

Ich nicke nachdenklich, während wir weiter nebeneinander her gehen.

•••

„Wo willst du hin?", murmele ich verschlafen, als Henry mir einen Kaffee auf meinen Nachttisch stellt und einen Kuss gibt. Mir entgeht nicht, dass er bereits angezogen ist.
„Ins Atelier", flüstert er. „Du kannst noch weiterschlafen. Ich hab nur diese eine Idee, die unbedingt rauswill."
„Aber Jenny kommt nachher", wende ich ein.
„Bis dahin bin ich vielleicht schon wieder da", lächelt er und küsst mich erneut.
„Wieder etwas Trauriges?", frage ich besorgt und Henrys Augen leuchten liebevoll, als er sich doch kurz zu mir aufs Bett setzt.

„Nein", sagt er mir einem ehrlichen Lächeln und ich glaube ihm. „Ich musste an deine Fragen gestern denken und daran, dass ich so eine Pochemuchka bin und darum versuche ich heute, das Wort Pochemuchka auszudrücken."
Am Leuchten in seinen Augen erkenne ich, dass er es kaum erwarten kann zu beginnen. Ich liebe es, wenn Henry so aussieht und voller Schaffenskraft strotzt.

„Schaffenskraft", sage ich und er runzelt fragend die Stirn. „Wenn du noch ein Wort benötigst, was zu dir passt, ist es in letzter Zeit Schaffenskraft. Deine Augen leuchten so und deine Hände sind ganz unruhig und man spürt, dass dein Kopf seine Ideen loswerden will."

Henry nimmt mein Gesicht in seine Hände und wispert: „Für so etwas liebe ich dich, Maxwell. Danke. Ich beeile mich." Sein weicher Mund legt sich auf meinen, doch bevor die Kolibris in meinem Bauch vollkommen erwacht sind, entzieht er sich mir schon wieder und ich beobachte, wie Henry mit dem breitesten Lächeln auf seinem Gesicht aus dem Schlafzimmer geht. Kurz darauf höre ich das Schließen der Wohnungstür.

•••

„Wo ist Henry?", fragt wenig später meine Schwester, als wir gemeinsam am Küchentisch sitzen, jeder mit einer Tasse Tee vor sich.
Jenny trinkt grünen Tee, ich mag Ingwertee.

„Im Atelier", erkläre ich. „Er malt."
„An einem Samstag?"
„Ich glaube, ihm sind die Wochentage nicht so wichtig, wenn es ums Malen geht."
Jenny sieht ein bisschen verwundert aus, sagt aber nichts.
„Kann ich dich etwas fragen, Jenny?", beginne ich und sie legt ihre Hand auf meinen Unterarm.
„Immer, Max", versichert sie mir.

„Woher wusstest du, dass du Modeberaterin werden willst?", frage ich und sie lächelt.
„Ich schätze, ich habe ein ganz gutes Auge dafür und nicht jeder hat das", erzählt sie. „Und so kann ich Menschen bei etwas helfen, das dafür sorgt, dass sie sich besser, selbstbewusster oder einfach mehr wie sie selbst fühlen. Das wiederum gibt mir dann ein gutes Gefühl."

Ich nicke verstehend und sie kichert leise.
„Nicht, dass du oft auf mich hören würdest, aber zumindest darf ich dir seit Henry da ist, mehr Farbe geben."
Ich grinse ebenfalls ein bisschen und Jennys Gesicht wird wieder ernst.
„Wie kommst du auf diese Frage, Max?"
Ich zucke mit den Schultern.
„Jeder in meinem Umfeld scheint irgendeine... Aufgabe zu haben. Habe ich wohl auch eine?"

Jenny greift meine Hand und blickt mich an.
„Du bist der wunderbarste Bruder, den man sich wünschen kann und der tollste Freund für Henry. Da bin ich mir sicher", sagt sie ehrlich.
„Aber du bist Modeberaterin und meine Schwester und die Freundin von jemandem, den du mir noch nicht vorgestellt hast", erkläre ich.
Jennys Augen weiten sich überrascht und sie sagt: „Woher weiß du..?"
„Du hast diesen anderen Lippenstift drauf", grinse ich. „Den, der deine Augen mehr betont. Den trägst du immer, wenn du mit jemandem zusammen bist."

Ihre Wangen nehmen einen leichten Rosaton an und sie murmelt: „Wir waren erst auf drei Dates."
„Aber du magst ihn."
„Er ist toll", schwärmt sie und ihre Augen glitzern verträumt dabei. „Sein Name ist Dominic und er ist eine Art Coach für Firmen, die ihre Teamarbeit verbessern möchten."

Interessiert höre ich ihr zu, während meine Schwester dazu übergeht, von ihrem neuen So gut wie-Freund zu schwärmen und nehme mir unterdessen mein Aprilbuch, um die letzten Seiten mit Beschreibungen ihrer leuchtenden Augen und roten Wangen zu füllen.

Wortschatz | ✓Where stories live. Discover now