Passeggiata

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Tatsächlich habe ich das Radfahren nicht verlernt. Anfangs noch etwas holprig, aber bald schon sicherer fahre ich über den Parkplatz und lache leise dabei. Henry, der immer neben oder hinter mir in großen Kreisen fährt, ruft mir zu: „Und jetzt schalte mal den Motor ein! Du musst nur den kleinen Knopf am Lenker drücken."
Etwas ängstlich betätige ich den Knopf und höre ein leises Summen. Mein Treten wird nicht schwerer oder schneller, sondern vielmehr ergiebiger. Als würde eine unsichtbare Hand mich sanft von hinten anschieben.

„Toll, oder?", ruft Henry lachend. Ich halte meine Füße still und das Summen erstirbt augenblicklich. Erst als ich wieder beginne, die Pedale zu treten, erwacht auch der kleine Motor wieder zum Leben.
„Dann würde ich sagen, auf nach Hause!", ertönt Henrys Stimme als wäre er Superman und würde gleich abheben, während er sein Fahrrad vom Parkplatz auf den Radweg steuert und ich ihm wohl oder übel mit meinem Rad folgen muss.

•••

Die folgenden Wochen sind, neben den ersten gemeinsamen mit Henry, die spannendsten meines Lebens, glaube ich. Ich bin jeden Wochentag im Book Worms und helfe Mr. Worms bei den Bestellungen und dem Einsortieren von Büchern.

Dass er sich freuen würde, wenn ich meine Arbeit bei ihm fortsetzen würde, sagte der Mann mit den bunten Laufschuhen ganz nebenbei während wir wieder ein Glas Arbeitersekt genossen.

Die Fahrt mit dem Fahrrad ist schon lange nicht mehr so beängstigend wie zu Beginn und inzwischen genieße ich die zusätzliche Bewegung. Gemeinsam haben Mr. Worms und ich einen Plan erstellt, wie er seine Bücher im Laden zukünftig sortieren möchte und wie wir dieses Mammutprojekt am besten bewerkstelligen wollen.

Henry ist jeden Tag im Atelier oder trifft sich mit dem Galeristen, der ihn auch oft am Wochenende anruft. Sein Name ist Liam und ich mag ihn nicht. Ich habe ihn noch nie gesehen, aber er nimmt sehr viel von der Zeit in Anspruch, die Henry sonst mit mir verbringen würde und das gefällt mir nicht.

Was mir gefällt, sind die Abende mit Henry, wenn sein Telefon auf der Kommode im Flur liegt, wir am Esstisch sitzen und über unseren Tag plaudern. Henry erzählt von seinen Bildern, was er alles geschafft hat oder welche Ideen wieder in seinem Kopf auftauchten und ich quassele über Mr. Worms, neue Bücher, die eingetroffen sind oder wie spannend mein Arbeitsweg mit dem Fahrrad war.

Gerade beobachte ich fasziniert, wie Henry die Spaghetti, die wir heute zu Abend essen, gekonnt auf seiner Gabel zusammenrollt. Normalerweise ist dieses Nudeln-Aufrollen eine ganz einfache Tätigkeit, aber irgendetwas daran, wie Henry es tut, lässt mich innehalten und auf seine schönen Finger starren.

Henry kennt das schon und lässt sich dadurch nicht stören. Anfangs habe ich sogar vollkommen vergessen selbst zu essen, weil ich ihm wie benommen dabei zusehen musste, wie er sein Brötchen zum Frühstück aufschneidet. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass Henry dies anders tut als beispielsweise meine Schwester, die es in regelmäßigen Abständen fertigbringt, sich bei dieser Handlung in die Hand zu schneiden.

Während andere Menschen das Brötchen in die eine Hand nehmen, um es dann mit dem Messer in der anderen zu zerschneiden, legt Henry seins ordentlich auf seinen Teller, sucht eine passende Stelle - dabei dreht er das Brötchen bereits, allerdings nur mit seinen Fingerspitzen der linken Hand - und sticht dann mit dem Messer hinein. Die linke Hand dreht das Brötchen auf dem Teller, wohlgemerkt nur die Fingerspitzen, und die Rechte führt das Messer.

Ein vibrierendes Geräusch lässt Henrys Gabel und damit meine Faszination über seine Fähigkeiten fallen und ich muss mich zusammenreißen, nicht wütend zu schnauben. Meine Armbanduhr zeigt bereits kurz vor acht Uhr abends an und auch wenn es jetzt im Juli noch strahlend hell draußen ist, habe ich mich dennoch auf einen gemeinsamen Freitagabend mit meinem Freund gefreut.

„Jetzt?", höre ich ihn, als er mit dem Telefon am Ohr zurück in die Küche kommt. „Okay, bin gleich da."
Entschuldigend blickt Henry mich an und ich murre: „Du musst nochmal in die Galerie."
„Liam sagt, der Besitzer hat uns jetzt einen anderen Raum zugeteilt und nun ist er überfordert, in welcher Reihenfolge die Bilder ausgestellt werden sollen. Ich kann ihn das nicht alleine machen lassen."
„Die Bilder sind noch nicht mal da", stöhne ich genervt und rolle mit den Augen.

Henry hat darauf bestanden, seine Werke, die ausgestellt werden, lediglich zu fotografieren und die Fotos dem nervigen Galeristen zur Verfügung zu stellen. Erst einen Tag vor Beginn der Ausstellung werden die Originale von einer Spedition aus dem Atelier abgeholt. Henry sagt, die Bilder müssen bei ihm bleiben, weil ihm immer noch Feinheiten auffallen, die er ausbessern oder anpassen muss. Sein Atelier sieht selbst schon aus wie eine Galerie, denn an jeder freien Stelle stehen Leinwände, liegen zum Teil sogar flach auf dem Boden.

„Kommst du mit?", fragt Henry und stellt sich hinter meinen Stuhl. Seine langen Arme schlingen sich um meinen Oberkörper und er küsst liebevoll meine zauseligen Haare. „Wir könnten mit den Rädern fahren und die warme Sommerluft schnuppern."
„Gibt es ein Wort für Sommerluft?", frage ich und lege meine Hände über seine Unterarme. Wenn er mich berührt, kann ich ihm nie lange böse sein. Und eigentlich bin ich auch nicht ihm böse, sondern diesem Liam, weil er schon wieder stört.
„Sommerluft", kichert Henry und vergräbt seine Nase in meinen Haaren.
„Du enttäuschst mich", brumme ich grinsend.

„Wie wäre es mit Sommerluftfahrradausflug?", schlägt Henry vor und ich runzele die Stirn.
„Das hast dir ausgedacht", lache ich und Henry drückt mich fest von hinten.
„Jedes Wort hat sich irgendwann jemand ausgedacht", verteidigt er sich. „Alternativ kann ich dir noch Passeggiata anbieten."

„Passe-was?", kichere ich.
„Passeggiata, wobei das ein Spaziergang ist. So in etwa wie ‚Den Fuß auf der Straße haben', würden die Italiener wohl sagen. Aber dann können wir nicht die Räder nehmen", grübelt Henry und ich löse mich aus seiner Umarmung und stehe auf, um unsere Teller wegzuräumen.
„Dann doch lieber der Sommerluftfahrradausflug", grinse ich und küsse seine Schläfe. „Darf ich mein Julibuch mitnehmen und mir noch dieses Passe-dings aufschreiben?"

„Passeggiata", wiederholt Henry und streichelt über meinen Arm. „Und danke, Maxwell."
„Wofür?", erkundige ich mich.
„Dafür, dass du mitkommst und mich unterstützt."
„Jederzeit", lächele ich ehrlich. „Ich bin unglaublich stolz auf dich und außerdem-"
Henrys Blick wird fragend.
„Lerne ich dann diese Nervensäge Liam endlich kennen."

Wortschatz | ✓Onde histórias criam vida. Descubra agora