Phrenopathie

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„Max", wendet sich Jennys Freund an mich. „Ich habe diesen Brannigan angerufen."
„Wen?", frage ich verwirrt und lege das neue Mobiltelefon neben Henrys auf dem Couchtisch ab. So habe ich beide Geräte im Blick, sollte Dr. Cooke sich melden.
„Den Galeristen", klärt Dominic mich auf.
„Liam", sage ich stumpf und Dominic nickt zustimmend.
„Er war vollkommen aufgelöst, sagte es wäre ein Desaster und dass er nicht wüsste, was jetzt mit der Ausstellung wäre."

Ich vergrabe verzweifelt meine Hände in meinen Haaren. So etwas hatte ich schon geahnt und ich habe selbst keine Antwort darauf.
„Er glaubt nicht, dass er in so kurzer Zeit einen Ersatz finden wird und dass er mit dem Galeriebesitzer sprechen müsste, was die Konsequenzen wären."
Mit großen Augen blicke ich ihn an.
„Konsequenzen?", wiederhole ich.

Dominic seufzt und reibt nervös seine Hände aneinander.
„Ich habe noch etwas recherchiert und es scheint, dass, sollte kein Ersatz gefunden werden und Henry nicht rechtzeitig Ausstellungswerke liefern können, er zumindest für einen gewissen Prozentsatz des kalkulierten Umsatzes aufkommen müsste."
„Des kalkulierten Umsatzes", ahme ich seine Worte nach, ohne zu verstehen, was sie bedeuten.

„Wir müssen zumindest bis morgen abwarten, was der Besitzer sagt und auch wie es Henry geht, vielleicht-"
„Vielleicht geht es ihm ja blendend und er malt ganz schnell fünfunddreißig neue Bilder", knurre ich und balle meine Hand zu einer Faust. Ich bin traurig und wütend und möchte am liebsten schon wieder etwas zerstören. Doch niemand ist Schuld an dieser ganzen Misere und diese Ohnmacht macht mich noch viel wütender und enttäuschter.

„Max", mischt Jenny sich ein. „Gerade können wir nicht viel mehr tun als abzuwarten. Wir wollen nur helfen."
„Ich weiß", stöhne ich und reibe mir über mein Gesicht. „Es ist nur alles so-"
Henrys Telefon beginnt, auf dem Couchtisch zu vibrieren und herumzurutschen und ich erkenne Dr. Cooke als Anrufer. Mit zittrigen Fingern greife ich das wackelnde Gerät und beantworte den Anruf.

„Dr. Cooke", rufe ich erleichtert in den Hörer. Ich höre Babygeschrei im Hintergrund und dann die erschöpfte Stimme meines Therapeuten: „Hallo Max."
„Es tut mir so leid, Sie zu stören. Geht es dem Baby gut? Und Ihrer Frau?"
Ich höre ihn lachen und er antwortet: „Ja, es ist ein Mädchen. Uns allen geht es gut. Was ist mit Henry? Was ist passiert?"

Meine Stimme zittert, als ich beginne zu reden und ich weiß nicht, ob vor Erleichterung oder weil mir das gesamte Ausmaß dieser Situation erst jetzt vollkommen bewusst wird.
„Im Atelier wurde die Sprinkleranlage ausgelöst und alle von Henrys Bildern wurden zerstört", versuche ich so ruhig wie möglich zu berichten. „Am Freitag soll seine Ausstellung beginnen und er wollte die Werke noch nummerieren. Er war total apathisch als ich ihn dort fand, ähnlich wie damals in Key West."

Dr. Cooke macht nur ein zustimmendes „Hm" und ich nehme das als Zeichen, weiterzusprechen.
„Zu Hause hat er geschlafen. Ich wollte ihm eigentlich die Tabletten geben, die Sie uns für den Notfall gegeben haben, aber er schlief und dann wollte ich ihn nicht wecken. Und als ich in der Nacht aufwachte, war er weg. Er war im Atelier und stand auf der Fensterbank am offenen Fenster. Er sagte etwas davon, dass er etwas suchen würde und ich habe ihn runtergezogen. Dann kam dieser Dr.-"

Fragend sehe ich meine Schwester an, weil ich mich nicht an den Namen des Quacksalbers erinnern kann und sie flüstert mir zu: „Dr. Donovan."
„Dr. Donovan", wiederhole ich den Namen. „Er hat Henry einfach mitgenommen und mir dieses Wattezeug gegeben und ich wollte Henry doch nur helfen, er tut doch niemandem was und er war nur so traurig und jetzt haben sie ihn eingesperrt und ich weiß nicht, was ich tun soll und es tut mir so leid."

Inzwischen weine ich wieder und wische mir verzweifelt über die Augen, während Dr. Cookes Stimme beruhigend durch den Hörer auf mich einredet und Jenny ihre kleine Hand auf mein Schulterblatt legt.
„Okay, Max", spricht mein Arzt ruhig. „Ich rufe in der Klinik an und erkundige mich. Dr. Donovan hat richtig gehandelt, ich nehme an, er hat eine Prenopathie auf Grund der vorangegangenen Ereignisse als Grund angegeben."

„Eine Preno- was?", frage ich schniefend.
„Prenopathie, ein anderes Wort für eine Psychose. Henry wird es wohl sinnbildlich den Boden unter den Füßen weggerissen haben, er konnte in den letzten Wochen an kaum etwas anderes denken als diese Ausstellung", erklärt Dr. Cooke. „Das Gute ist, dass er ohne ein psychologisches Gutachten ohnehin nicht länger als vierundzwanzig Stunden gegen seinen Willen in der Klinik behalten werden darf. Ich melde mich wieder, Max."

„Danke, Dr. Cooke", flüstere ich und lege auf, als ich nur noch ein Tuten in der Leitung vernehme.
„Was hat er gesagt?", erkundigt sich Jenny, die mir nun mitfühlend ein Taschentuch reicht, mit dem ich mir mein Gesicht abwische,
„Er ruft in der Klinik an und fragt nach. Er sagt, länger als vierundzwanzig Stunden dürfen sie Henry ohne ein Gutachten nicht dort behalten", wiederhole ich die Informationen meines Therapeuten. „Und es ist ein Mädchen."

Jenny macht ein verzücktes Geräusch, wie es offenbar Frauen oft machen, wenn es um Babys oder niedliche Tiere geht. Zumindest kenne ich das Geräusch von ihr oder auch meiner Mutter.

Ich atme tief durch und greife mein sonnengelbes Julibuch, das noch immer auf dem Tisch liegt. Zumindest versucht Dr. Cooke uns zu helfen. Ich bin noch weit davon entfernt, mich zu entspannen, aber ich bin etwas zuversichtlicher, dass alles irgendwie gut oder wenigstens besser werden wird als noch vor dem Anruf.

Mit meinem Stift beginne ich, meine Gedanken in mein Heft zu notieren, hoffe, dass ich Prenopathie richtig schreibe und dass Dr. Cooke sich bald mit guten Neuigkeiten meldet. Nur am Rande nehme ich wahr, wie Jenny meinen Kopf küsst und etwas von Frühstück erzählt und sie und Dominic mich mit meinem Buch und meinen Gedanken auf dem Sofa zurücklassen.

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