hibbelig

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Meine Schwester treibt mich in den Wahnsinn. Ich kann kaum noch atmen, so sehr spüre ich ihre Nervosität, während sie mir in dem kleinen Café, in dem Henry und ich nach unserer dritten Begegnung im Park waren, gegenübersitzt. Damals hatte ich mein rauchblaues Novemberbuch dabei, heute halte ich mein himmelblaues Maibuch auf dem Schoß.

Ich mag das Maibuch von Henry und habe mich an den ersten Tagen des Monats besonders bemüht, nicht allzu viel hineinzuschreiben. Irgendwann ertappte mein feinfühliger Freund mich natürlich dabei und meinte: „Warum schreibst du so klein?"
„Ich möchte Platz sparen", entgegnete ich.
„Hast du Angst, dass es voll wird?"
„Ja", seufzte ich und strich über die schönen Muster aus Worten wie ‚Wolkenbilder' oder ‚Maiglöckchen'.
„Dann bekommst du ein Neues", grinste Henry und ich schaute ihn entsetzt an.
„Ich will kein Neues", meckerte ich.
„Ein Neues von mir", stellte er klar. „Ich mache dir noch eins."
„Aber es ist nicht Ostern."
„Du musst es auch nicht suchen, ich gebe es dir so."

Also schreibe ich wieder mehr und in normaler Größe und gerade überlege ich, ob Henry, der neben mir auf dem violetten Samtsofa sitzt, wohl ein Wort für Jennys Nervosität hat. Sie schaut sich unentwegt um, trippelt mit dem Fuß und hat schon zweimal fast ihre Wasserflasche umgekippt. Henry sitzt ganz gelassen neben mir, trägt das himmelblaue T-Shirt, das den goldenen Schimmer seiner Haut noch mehr betont, und hält meine Hand auf seinem Knie.

„Du siehst so hübsch aus heute", strahlt er meine Schwester an und Jenny schiebt sich verlegen eine ihrer schwarzen Haarsträhnen hinter ihr Ohr. Sie trägt eine lavendelfarbene Seidenbluse zu einer cremefarbenen, leichten Hose und natürlich den Lippenstift. Den Lippenstift, der erklärt, warum sie so nervös ist und ständig zur Eingangstür des Cafés sieht.
„Danke, Henry", sagt sie und greift nach ihrem Wasserglas. „Normalerweise ist Dominic nie zu spät. Vielleicht findet er das Café nicht."

Gerade noch rechtzeitig kann ich die Wasserflasche mit meiner Hand abfangen und blicke meinen Freund hilfesuchend an.
„Hibbelig", kichert Henry und ich runzele die Stirn.
„Das ist alles?", frage ich und er hebt überrascht die Augenbrauen.
„Aber das ist sie doch", verteidigt er sich und zeigt auf Jenny. „Hibbelig. Das perfekte Wort."
„Ich dachte, du kommst jetzt mit irgendwas auf Suomi oder Mandarin", maule ich enttäuscht. „Sowas wie Chi-Chi oder Frappuccino."

Henry lacht laut auf und gibt mir einen Kuss auf die Wange.
„Frappuccino, mein Liebster, ist ein eisgekühltes Kaffeegetränk."
Jenny beobachtet uns verträumt und zumindest für einen Moment scheint sie ganz ruhig zu sein.
„Ihr beide seid das Süßeste, was man sich nur vorstellen kann", seufzt sie und plötzlich kommt ein großer Mann von hinten und legt seine Hände auf ihre Schultern, bevor er die Seite ihres Halses küsst.
„Da wage ich mal zu widersprechen, denn du bist schon das Süßeste, was man sich vorstellen kann", säuselt er.

Jennys Wangen werden ganz rot und sie fängt verlegen an zu kichern, während sie ihre Hände auf seine legt.
„Tut mir leid, dass ich zu spät bin", entschuldigt der blonde Mann sich und nachdem er seinen Blick endlich von meiner Schwester abwenden kann, schaut er Henry und mich an.
Henry grinst über beide Ohren, ich mustere den Dominic nur. Er hat blonde Haare, die ihm leicht in die Stirn fallen, auffallend helle blaue Augen und ein Lächeln, das strahlend weiße Zähne entblößt.

„Hi", begrüßt er uns und hebt zu meiner Erleichterung nur winkend seine Hand. „Ich bin Dominic. Ihr müsst Henry und Max sein."
Erstaunt stelle ich fest, dass er, als er unsere Namen nennt, auch jeweils den Richtigen von uns beiden ansieht und beobachte, wie er ganz selbstverständlich meine Schwester kurz von ihrem Sessel hebt, sich auf ihren Platz setzt und sie dann auf seinen Schoß zieht.

Jetzt wird Henry neben mir ganz hibbelig und greift aufgeregt nach meiner Hand. Offenbar mag er Dominic und auch ich muss zugeben, dass ich ihn sehr sympathisch finde. Er hat mir nicht die Hand geben wollen und er himmelt meine Schwester an, als wäre sie ein Engel, von dem er seine Augen nicht abwenden kann.
Jenny erwidert seinen Blick in der gleichen Intensität und legt ihre Arme um seinen Hals.
„Möchtest du was trinken?", säuselt Jenny und er blickt interessiert zu der Tafel über dem Tresen, auf der die verschiedenen Angebote aufgelistet sind.

Die Kellnerin hinter dem Tresen entdeckt seinen suchenden Blick und sofort eilt sie zu uns.
„Hallo, darf es bei euch noch was sein?", fragt sie und beäugt den Neuankömmling interessiert.
Dominic scheint keinerlei Notiz von ihren Blicken zu nehmen, stattdessen verschränkt er seine Finger mit denen meiner Schwester und sagt, ohne die Kellnerin anzusehen: „Gibt es wohl auch Frappuccino?"
„Steht nicht auf der Karte, aber ich kann es dir gern machen", schlägt die Kellnerin begeistert vor.

Henry neben mir prustet laut los und wir sehen ihn alle schmunzelnd an. Die Kellnerin bekommt ganz rote Wangen und Henry winkt lachend ab.
„Wir haben vorhin über Frappuccino gesprochen. Könnte ich auch einen bekommen? Vielleicht mit Zimt?", lenkt er ab und ich runzele die Stirn.
„N-Na klar", murmelt die Kellnerin und schaut mich fragend an. „Du auch?"
„Nein", antworte ich steif. „Gern noch einen normalen Kaffee mit einer Tüte Zucker daneben. Ich mag keinen kalten Kaffee."
„Okay", sagt die Kellnerin und will sich schon wieder umdrehen.
„Könnte ich noch einen normalen Cappuccino bekommen?", ruft Jenny ihr nach und sieht ein wenig verstimmt aus. Ich kann es ihr nicht verdenken.
„Sicher", bekommt sie als Antwort und die Kellnerin verschwindet wieder hinter dem Tresen.

Jenny reißt empört ihren Mund auf, doch Dominic greift ihr Kinn und zieht ihr Gesicht zu sich heran.
„Du darfst auch gleich von meinem Frappuccino kosten", säuselt er. „Aber ich bin mir sicher, du bist viel süßer."
Jenny scheint in Dominics Armen zu zerfließen und Henry neben mir drückt begeistert meine Hand. Verwundert sehe ich ihn an und frage mich, ob ich wohl solche Sachen auch zu ihm sagen soll.

„Wenn ich keine Tüte Zucker bekomme, nehme ich auch dich zu meinem Kaffee", versuche ich mein Glück und bekomme von Henry zunächst einen verwirrten Blick und dann ein Küsschen auf die Nase.
„Du bist so süß, Maxwell", kichert er und beugt sich vor, um in mein Ohr zu flüstern, was ich nur ich hören kann: „Und ich nehme dich heute Abend. Ohne Kaffee, dafür aber besonders heiß."

Ich reiße die Augen auf und räuspere mich kurz. Ein Blick zu Jenny und Dominic zeigt mir aber, dass die beiden nur mit sich beschäftigt sind und nichts davon mitbekommen haben.

Als die Kellnerin, noch immer mit schamroten Wangen, unsere Getränke gebracht hat, wendet sich Dominic interessiert an uns.
„Also", sagt er freundlich. „Wollt ihr mich jetzt unter die Lupe nehmen?"

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