Quacksalber

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Ich höre Jennys und Dominics Schritte hinter mir und Henry, der noch immer auf der Fensterbank steht, zuckt ebenfalls zusammen.
„Warum ist es so voll hier?", möchte er von mir wissen und ich ergreife vorsichtig seine Finger.
„Ich bin aufgewacht und du warst nicht da", erkläre ich wahrheitsgemäß und bemühe mich dabei, das Zittern in meiner Stimme auf ein Minimum zu beschränken.
„Das tut mir leid", seufzt Henry und blickt wieder nach unten auf die Straße.

Nur vage nehme ich wahr, wie meine Schwester erschrocken nach Luft schnappt, sie und ihr Freund jedoch schweigen und Abstand zu uns halten. Sie flüstern etwas und dann glaube ich, Jenny telefonieren zu hören. Meine Finger verschränken sich mit Henrys und dann hole ich tief Luft, als ich ihn mit einem Ruck zu mir herunter zurück in den Raum ziehe.

Henry stößt unsanft gegen mich und wir stolpern ein Stück zurück. Meine Arme halten ihn fest umschlungen, mein Atem geht stockend und mein Herz rast in meiner Brust. Es fühlt sich an, als hätte es die vergangenen Sekunden stillgestanden und müsste nun alle Schläge im Eiltempo nachholen.

Jetzt ist auch Jenny bei uns und legt vorsichtig ihre Hand an meine Schulter.
„Ich habe bei Dr. Donovan angerufen", flüstert sie mir zu und ich runzele verwirrt die Stirn.
„Bei wem?"
„Der Vertretung von Dr. Cooke", klärt sie mich auf. „Er wird gleich hier sein."
„Jenny, das ist nicht notwendig", will ich sie zurückdrängen und schließe meine Arme noch fester um den nun wieder vollkommen stillen Henry. Ich will keinen anderen Arzt. Ich will allein sein mit Henry und mich um ihn kümmern und-

„Max, es muss sein!", sagt meine Schwester energisch und stemmt die Hände in ihre Hüften. „Er war im Begriff aus dem Fenster zu springen!"
„War er nicht!", schreie ich sie an. „Er hat etwas gesucht! Ich bin doch jetzt bei ihm!"
„Du schaffst es kaum, auf dich selbst aufzupassen!", ruft sie. „Was wäre, wenn du nicht aufgewacht wärst?"

Geschockt starre ich sie an, als hätte sie mir gerade eine Ohrfeige verpasst und Jenny fährt sich verzweifelt mit ihren Händen durch ihre Haare.
„Geh, Jenny", sage ich bedrohlich leise und Dominic stellt sich beschützend neben sie.
„Max, wir müssen uns alle erst einmal beruhigen", will er sich einmischen und ich funkele ihn wütend an.
„Ihr versteht gar nichts!", brülle ich und sehe Tränen in den Augen meiner Schwester. Henrys Kopf ruht weiterhin an meiner Schulter und ich lege meine Hand behütend über seine Wange.

Laute Schritte auf der Treppe kündigen die Ankunft von weiteren Personen an und ein zerzauster, älterer Mann kommt begleitet von zwei Rettungssanitätern hereingelaufen.
„Hallo zusammen", sagt er freundlich. „Ich bin Dr. Donovan, ich vertrete Dr. Cooke, denn seine Frau befindet sich aktuell in den Wehen."
„Sie können gleich wieder gehen", rufe ich ihm zu und drehe mich mit Henry weg von ihm.

Hier sind zu viele Leute, all das ist mir gerade viel zu viel und ich spüre, wie meine Hände zittern. Ich will Henry von hier wegbringen, will ihn beschützen und mich mit ihm auf die warmen Fliesen im Bad legen. Ich möchte seine Haare streicheln und ihm sagen, dass alles wieder gut wird. Dass wir auch wegfahren können oder doch unser Picknick nachholen und alles wieder so wird wie vorher.

Plötzlich läuft alles wie in Zeitlupe und irgendwie gedämpft vor mir ab. Starke Arme drücken Henry weg von mir und ich versuche machtlos, mich an ihn zu klammern. Ich höre Schreie und glaube, es sind meine eigenen. Jemand hält mich fest, drückt mich auf den stinkenden, feuchten Boden und ich muss zusehen, wie einer der Sanitäter und dieser Pfuscher, den Jenny gerufen hat, meinen Henry nach draußen führen. Ich höre meine Schwester weinen und Dominic reden und dann sticht mich etwas in den Oberarm, während ich verzweifelt meine Hand ausstrecke und Henrys Namen rufe.

•••

Als ich meine Augen öffne, weiß ich sofort, dass Henry nicht da ist. Ich fühle mich leer und wattig von innen. Neben mir auf dem Bett liegt Jenny, ihr Kopf auf Henrys Kissen. Die Haut um ihre Augen ist gerötet und schmerzvoll erinnere ich mich an die Zeit vor Henry. Da kam es öfter vor, dass sie so neben mir lag.

Ich schlage die Decke zurück und sofort ist meine Schwester wach. Sie setzt sich auf und starrt mich an, ihre Augen unendlich traurig. Fragend sehe ich sie an, sie weiß, dass ich nur eine Information brauche.
„Sie haben ihn ins NYS Psychiatric Institute gebracht", erklärt Jenny ohne Umschweife. „Er muss mindestens vierundzwanzig Stunden zur Beobachtung dort bleiben, um auszuschließen, dass er keine weitere Gefahr für sich selbst oder andere darstellt."

„Gefahr?", frage ich erstickt. „Jenny, du sprichst von Henry. Wie könnte er eine Gefahr für irgendjemanden sein?"
„Max, er war kurz davor aus dem Fenster zu springen!", weint meine Schwester und ich vergrabe verzweifelt meine Finger in meinen Haaren.
„Okay", atme ich tief durch und schließe meine Augen. „Wir müssen ihn da rausbekommen. Ich muss Dr. Cooke anrufen."
„Max, Dr. Cooke ist gerade nicht-", will Jenny mich unterbrechen, doch ich schreie sie an: „Er muss aber!! Dieser... dieser ahnungslose Kretin von gestern wird uns nicht helfen."

Ich krabbele eilig vom Bett und suche Henrys Smartphone aus meiner Hose, die irgendjemand - vermutlich Jenny - ordentlich auf einem Stuhl zusammengelegt hat. Ich suche die Nummer meines Therapeuten und schreibe ihm eine Nachricht.

Dr. Cooke

Hallo Dr. Cooke,
hier ist Max. Henry wurde
in die Psychiatrie
gebracht und ich brauche
dringend ihre Hilfe. Ich
weiß, es ist sehr ungünstig,
aber ich kann sonst
niemanden fragen.

Zittrig lege ich das Handy auf meinem Schoß ab und sehe meine Schwester an. Sie wischt sich die Tränen von den Wangen und steht entschlossen auf.
„Ich mache uns einen Kaffee", murmelt sie und lässt mich allein im Schlafzimmer.

Ich kneife meine Augen zusammen und atme tief durch. Meine Gedanken möchten sich gern selbständig machen, doch ich zwinge sie zurück. Zunächst muss ich mich darum kümmern, dass Henry nach Hause kommt. Danach sehen wir weiter.

Im Wohnzimmer erkenne ich überrascht, dass Dominic etwas zerknautscht auf dem Sofa sitzt. Er sieht mich entschuldigend an und ich nicke ihm mürrisch zu. Wäre meine Sorge um Henry nicht allumfassend, würde ich mich vermutlich besser mit dem Gedanken befassen können, dass er ein ausgesprochen feiner Kerl zu sein scheint. Jenny kommt mit zwei Tassen Kaffee herein und reicht eine mir und eine Dominic.

„Danke, Liebste", murmelt er und sie lächelt ihn warm an.
„Was ist ein Kretin?", möchte sie von mir wissen und ich zucke mit den Schultern.
„Ein Dummkopf oder Idiot", brumme ich und denke verärgert an diesen Dr. Nicht-Cooke von gestern zurück. „Wobei er vermutlich eher ein Quacksalber ist."

„Max", wendet Dominic sich an mich. „Ich habe gestern die SIM-Karte deines alten Handys in das neue Gerät eingebaut. Wenn du deinen Code eingibst, sollte es wieder gehen."
Er hält mir das schwarze Gerät hin und ich nehme es dankbar entgegen. Als es nach der Codeeingabe die Verbindung herstellt, starre ich verblüfft auf das Display.

Mehrere Nachrichten und entgangene Anrufe von Henry erscheinen auf dem Bildschirm und ich brauche einen Moment, um zu realisieren, dass diese Anrufe von gestern sind, als ich wegen diesem Liam so wütend aus der Galerie abgedampft bin.

Henry

Maxwell, wo bist du?

Maxwell, ich mache
mir wirklich Sorgen.

Maxwell, bitte melde
dich. Ich liebe dich!!

Wieder füllen sich meine Augen mit Tränen und ich beiße mir schmerzhaft auf die Unterlippe. Wenn ich jetzt weine, kann ich nicht mehr genügend Kraft aufbringen, um Henry zu helfen. Ich muss jetzt stark sein, zusammenbrechen kann ich später.

Wortschatz | ✓Where stories live. Discover now