Gemas

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Auf dem Weg nach oben in Henrys Atelier schallt mir eindeutig seine Gute-Laune-Playlist entgegen. Unwillkürlich muss ich schmunzeln und als ich die Tür langsam aufdrücke, erblicke ich ein mir bekanntes und sehr geliebtes Bild:

Henry steht, nur in Boxershorts bekleidet, konzentriert vor seiner Staffelei. Seine Zunge schaut zwischen seinen zusammengepressten Lippen hervor und er summt leise zu ‚Groove is in the heart', welches aus einer kleinen Bluetoothbox in der Ecke des Raumes schmettert. Er setzt einen weiteren Pinselstrich und urplötzlich wirft er den Pinsel in den Pinselbecher und beginnt laut singend und mit schwingenden Hüften durch das Atelier zu tanzen.

Ich stehe an die Wand gelehnt da, halte mir lachend die Hand vor den Mund und beobachte, wie Henry wild herumtanzt und aus vollem Halse mitsingt. Als er sich ausladend dreht, erblickt er mich und zuckt erschrocken zusammen.
„Wo kommst du denn her?", fragt er verlegen lachend und kommt langsam auf mich zu. Ich erkenne am Pochen seiner Halsschlagader, dass der Schreck sein Herz wohl zum Rasen gebracht hat. Oder vielleicht auch ein wenig meine Anwesenheit.

Ich lasse langsam meine Zeigefingerspitze über das Puckern fahren und schmunzele ihn an.
„Mbuki-mvuki?", frage ich und Henry kichert.
„Das hast du dir gemerkt, was?"
„Jedes Wort habe ich mir gemerkt", flüstere ich. „Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe."
„Alles gut", entgegnet er und küsst meinen Mund. „Du bringst mein Herz immer zum Rasen, Maxwell. Ob mit Schreck oder ohne."

Ich lächele verlegen und streiche über seine weichen Barthaare, die stets seinen hübschen Mund umsäumen.
„Darf ich hierbleiben, bis du fertig bist?", frage ich und Henrys Strahlen wird noch größer.
„Fertig noch lange nicht, aber dann kann ich das aktuelle Bild heute noch zu Ende malen", verkündet er freudig. „Wenn es dich nicht stört, dass ich hier so freizügig umherlaufe?"

Ich gehe zu dem Sofa, welches der Leinwand gegenübersteht und auf dem ich schon so manche grundlegende Erinnerung mit Henry erschaffen habe, und setze mich lächelnd.
„Machst du Witze? Für mich könntest du immer so herumlaufen, Henry."
„Dann würde ich nur vermutlich nicht zum Malen kommen, mein wolllüstiger Freund."

Henry geht zurück zur Leinwand und nimmt seinen Pinsel wieder auf, während ich mir mein grasgrünes Aprilbuch auf den Schoß lege und meinen Stift aus der kleinen Schlaufe am Rand hervorziehe.

Ich schreibe auf, dass ich Henry wild tanzend in seinem Atelier fand, wie er konzentriert auf die Leinwand blickt und wie toll er aussieht, wenn er malt. Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich hier war und wieviel wir seitdem schon gemeinsam erlebt haben. Ich denke an all die wunderbaren Worte, die Henry in jeder Situation hervorzuzaubern scheint und wie sehr seine lebensfrohe und dennoch zutiefst verständnisvolle Art gegenüber meiner Eigenheiten mich selbst verändert hat.

Ich mag den neuen Max, der ich jetzt bin. Und noch mehr mag ich Henry und ich möchte, dass er immer so glücklich und ausgelassen wie jetzt in diesem Moment ist. Mir ist bewusst, dass es tief in ihm einen Henry gibt, der das genaue Gegenteil davon ist und auch diesen verletzlichen Henry mag ich, will ihn beschützen und ihm versichern, dass ich immer für ihn da bin.

Henry blickt mich verwundert an, als ich ohne Vorwarnung zu ihm komme und meine Arme um ihn lege.
„Alles okay, Maxwell?", fragt er lachend, doch ich drücke ihn so fest ich nur kann an mich, bis ihm ein quietschendes Geräusch entkommt.
„Gemas?", sagt er und ich gluckse leise. Was auch immer dieses Wort heißt, so bin ich mir sicher, es beschreibt mein Innenleben wieder einmal perfekt.
„Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet", nuschele ich in seine Haare und habe nicht die geringste Lust, ihn loszulassen. „Aber ich sage einfach mal ja."

Henry lässt seinen Pinsel auf den Boden neben uns fallen und legt seine Arme ebenso fest um meine Taille. Er drückt mich so fest an sich, dass mir buchstäblich für einen Moment die Luft wegbleibt und ich mache ein ähnliches quietschendes Geräusch, als er wieder leicht lockerlässt.
„Das Gefühl der Liebe oder Zuneigung, das einen dazu bringt, jemanden so fest zu umarmen, dass er quietscht", erklärt er schmunzelnd und ich schüttele fassungslos den Kopf.

„Natürlich gibt es dafür ein Wort", stelle ich fest.
„Zum Glück", antwortet mein hübscher, mich noch immer fest umarmender Freund. „Sonst hätten wir uns selbst eins dafür ausdenken müssen."
„Ich bin froh, dass ich nicht der Einzige bin, der dieses Bedürfnis hat", sinniere ich.
„Nun", kichert Henry. „Ich bin froh, dass du offenbar der Einzige bist, der mich so fest umarmen will, dass ich quietsche, denn ich bin mir nicht sicher wie ich es fände, wenn fremde Menschen auf der Straße das mit mir täten."

„Ich bin mir sicher, dass ich das den fremden Menschen äußerst übelnehmen würde, wenn sie so etwas täten", brumme ich. „Jedoch könnte ich es ihnen auch nicht verdenken, denn dich muss man einfach gernhaben."

Henry küsst liebevoll meinen Kiefer und grinst mich an.
„Ich mag es, dass du so etwas sagst."
„Es ist nur die Wahrheit", erwidere ich.
„Ich weiß", schmunzelt er. „Aber zu Beginn unseres Kennenlernens hast du das sicherlich noch anders betrachtet."
„Da war ich noch ein anderer Max."
„Den ich trotzdem auf Anhieb mochte."
Henry gibt mir einen weiteren Kuss und windet sich langsam aus meiner Umarmung.
„So, und jetzt lass mich das hier noch schnell beenden, dann können wir nämlich nach Hause ins Bett."

Grinsend verziehe ich mich wieder auf das Sofa und beobachte, wie Henry den Pinsel wieder aufhebt und versucht, sich wieder auf seine Leinwand zu konzentrieren. Ich begnüge mich damit, ihn einfach anzusehen und glücklich zu lächeln, bis er schließlich den Pinsel mit einem Augenrollen zur Seite legt und in die Hände klatscht.

„Was jetzt?", frage ich verwirrt.
„Wir gehen nach Hause", erklärt er und sucht seine Jeans, um sich anzuziehen. „Du bist zu süß und lenkst mich nur ab, da bekomme ich ohnehin keinen einzigen vernünftigen Strich mehr hin."
„Ist das was Schlimmes?" Mein Lächeln bröckelt etwas.
„Nein, Maxwell", beruhigt Henry mich. „Ich habe heute schon so viel geschafft und wir hatten ohnehin ausgemacht, dass ich nur eine Stunde hierbleibe. Also lass uns nach Hause ins Bett gehen, ich möchte dich gern noch ein bisschen zum Quietschen bringen."

Wortschatz | ✓Where stories live. Discover now