Waldeinsamkeit

1.9K 253 59
                                    

Die Narzissen im Park verwandeln sich allmählich in braune, schrumpelige Gebilde, nachdem sie wochenlang in hellem Gelb erstrahlten. Ich sitze auf meiner gewohnten Bank und schreibe in das schöne, von Henry gestaltete Aprilbuch. Es ist fast voll, doch das macht nichts, denn bald ist ohnehin Mai und ich kann das himmelblaue Maibuch und den dazugehörigen himmelblauen Stift, welche ich bekommen habe, beginnen.

Henry hat mir zu jedem Monat ein passendes Notizbuch gestaltet und neben seinen schönen Worten, die er auf jedem Einzelnen hinterlassen hat, hat mich die Tatsache, dass er genau wusste, welcher Monat welche Farbe bei mir hat, dabei am meisten berührt. Sicherlich sind wir nun schon lange genug zusammen, dass er alle Monatsfarben schon mindestens einmal gesehen hat, doch ich könnte mir vorstellen, dass nicht alle Menschen so aufmerksam sind.

Ich blicke auf meine Armbanduhr und verstaue mein Notizbuch und meinen Stift in meinem Rucksack, bevor ich langsam aufstehe und mich auf den Weg mache. Es ist Freitag und jeden zweiten Freitag bin ich bei Dr. Cooke. War ich früher wöchentlich bei ihm, haben wir meine Termine nun auf alle zwei Wochen getaktet. Zum einen, weil es mir mit Henry einfach gut geht und mein psychischer Zustand stabil ist - Dr. Cookes Worte, nicht meine. Zum anderen, weil Dr. Cooke bald Vater wird und nur noch wenige Patienten betreut, um mehr Zeit mit seiner Frau zu verbringen. Henry und ich sind zwei der glücklichen Patienten, aber Henrys Termine sind jeden zweiten Mittwoch.

Während ich zur Praxis gehe, denke ich darüber nach, wie Dr. Cooke wohl zu Hause ist. Bis er mir offenbarte, dass er Vater wird, hatte ich ihn mir erstaunlicherweise nie privat vorgestellt. Ich wusste nicht einmal, dass er eine Frau hat.

Was macht Mrs. Cooke wohl, wenn sie nicht gerade schwanger ist? Ist sie auch Psychologin? Unterhalten sie sich dann abends über ihre Patienten? Sicherlich nicht mit Namen auf Grund der Schweigepflicht, aber vielleicht anonym? Oder ist sie etwas gänzlich Unpsychologisches? Was könnte das dann wohl sein? Was ist das Gegenteil zu einem Psychologen? Und warum entscheidet man sich, Psychologe oder dessen Gegenteil zu werden?

„Wie geht es dir heute, Max?", fragt mich Dr. Cooke wenig später, als ich bei ihm auf dem braunen Chesterfieldsofa sitze.
„Gut, Dr. Cooke", antworte ich und reiche ihm mein hübsch verziertes Aprilbuch, das fast voll ist. Dr. Cooke hebt überrascht die Augenbrauen.
„Muster?", fragt er.
Ich bin nicht der Typ für Muster. In aller Regel beunruhigen mich Muster, zumindest auf meinen Notizbüchern.

„Henry", schmunzele ich.
„Henry hat das gemalt?", staunt Dr. Cooke und ich nicke stolz. „Wow, er ist wirklich unfassbar talentiert."
„Das merken auch andere, er ist fast ausschließlich im Atelier und malt", erkläre ich.
„Wie geht es dir damit, Max?", möchte mein Therapeut wissen.

Ich runzele die Stirn, denn diese Frage habe ich mir selbst noch nicht gestellt.
„Lass' dir Zeit, Max", lächelt Dr. Cooke. „Ich lese so lange ein wenig, wenn ich darf?" Er deutet auf mein schönes, grasgrünes Aprilbuch und ich nicke gedankenverloren.

Wie es mir damit geht, dass Henry so viel malt? Ich verspüre immer noch dieses... wie hieß es? Kvell. Ich bin immer noch wahnsinnig stolz auf ihn, dass er endlich die Möglichkeit hat, seine Kunst einer breiteren Masse näherzubringen. Dass er hart dafür arbeitet, ist nur logisch und allein an der Art, wie seine Gedanken bei unseren Gesprächen abdriften, merke ich, dass ihn seine Arbeit gerade sehr beschäftigt.

„Gut geht es mir damit, denke ich", antworte ich schließlich.
Dr. Cooke nickt lächelnd und ich platze mit meinen vorherigen Gedanken heraus: „Ist Mrs. Cooke auch Psychologin?"
Mein Arzt lacht kurz auf und lehnt sich entspannt auf seinem Sofa zurück.
„Erklärst du mir, wie du jetzt auf Mrs. Cooke kommst, Max?"

„Ich dachte auf dem Weg hierher darüber nach", beginne ich. „Dass Sie bald Vater werden und dass ich bislang keinerlei Gedanken daran verschwendet habe, wie Sie wohl außerhalb dieser Praxis sind."
„Nun", lächelt Dr. Cooke. „Wir sind ja auch hier um über dich zu sprechen, Max."

Als ich ihn weiterhin erwartungsvoll ansehe, wird sein Lächeln noch breiter und er schüttelt langsam seinen Kopf, seine Finger auf meinem Aprilbuch, das auf seinem Schoß liegt, verschränkt.
„Nein", sagt er schließlich. „Sie ist Krankenschwester. Wir haben uns während meiner Zeit als Assistenzarzt kennengelernt."

„Das ist ein respektabler Beruf", entgegne ich und versuche mir Dr. Cooke in seinen stets nicht so gut sitzenden Chinohosen mit einem weißen Arztkittel vorzustellen.
„Man muss dafür gemacht sein", stimmt er mir zu.
„Woher wussten Sie es?", will ich wissen.
„Was meinst du, Max?"
„Woher wussten Sie, dass Sie dafür gemacht sind, Psychologe zu werden? Woher wusste Mrs. Cooke, dass sie Krankenschwester werden muss und nicht.. Bibliothekarin oder Steuerberaterin?", präzisiere ich meine Frage.

„Nun", überlegt Dr. Cooke. „Ich wusste schon immer, dass ich Arzt werden möchte, weil ich Menschen gern helfe. In der Schule war ich immer der Erste, der verletzte Mitschüler verarztet und beruhigt hat, während die anderen entweder schreiend zur Lehrerin liefen oder einfach umkippten. Außerdem war ich immer schon gut darin, anderen zuzuhören. Im Studium stellte sich dann heraus, dass Psychologie sich hervorragend für beides eignet. Und man hat bessere Arbeitszeiten."
Beim letzten Satz lacht er.

Ich registriere seine Erklärung und er reicht mir wortlos mein Aprilbuch, damit ich mir meine Gedanken dazu notieren kann.
„Mrs. Cooke kann ich dazu nur befragen", bietet er entschuldigend an. „Aber ich gehe davon aus, dass der Wunsch, jemandem zu helfen und dies auch zu können, ähnlich wie bei mir selbst, der Grund war. Im Prinzip macht man das, was man am liebsten tut und womit man sich am wohlsten fühlt."

•••

Auf dem Heimweg beschließe ich, Henry im Atelier abzuholen und bin etwas erschrocken, als ich auf dem Weg nach oben melancholische, klassische Musik vernehme. Ich drücke die Tür auf und sehe einen schniefenden Henry vor einer seiner Leinwände. Eine Träne läuft über seine Wange und sofort eile ich zu ihm.

„Hey", macht er überrascht und lächelt mich trotz allem an. Ich nehme sein Gesicht in meine Hände, wische mit meinen Daumen die Feuchtigkeit von seiner Haut und betrachte ihn sorgenvoll. „Was ist passiert?"
Henry lacht unbeholfen und winkt beschämt ab.
„Ich habe nur ein trauriges Lied angemacht, um in die richtige Stimmung zu kommen. Hat wohl geklappt."

Erleichtert atme ich auf, küsse aber dennoch seine feuchte Wange.
„Entschuldige", lächelt er. „Ich wollte dich nicht erschrecken."
„Warum musst du traurig sein?", will ich wissen.
„Ich wollte ‚Waldeinsamkeit' malen", erklärt mein noch immer beschämt lächelnder Freund und zeigt auf die Leinwand, an der wir stehen.

Ich erkenne tiefgrüne, schwarze und braune Baumstämme und fühle mich bei dem Bild tatsächlich unsagbar einsam.
„Wow", mache ich. „Das ist.. wirklich.. als stünde ich im Wald."
„Und fühlst du dich einsam?"
„Ich bin gerade sehr froh, dass du neben mir stehst und mich hältst, denn sonst hätte ich Angst, dass ich nie wieder nach Hause finde", gebe ich ehrlich zu. „Es hat etwas Bedrückendes, aber dennoch Friedliches."

Henry legt liebevoll sein Kinn auf meine Schulter und seufzt.
„Dann ist das Bild wohl fertig."

Wortschatz | ✓Where stories live. Discover now