Azart

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„Da bist du ja wieder", freut sich ein sichtlich erleichterter Henry, als ich wieder zu mir komme. Ich liege nackt auf meinem Sofa, die Beine über die Lehne gelegt und Henry kniet nackt neben mir. Seine Unterlippe ist nur noch leicht geschwollen, das Blut ist nicht mehr zu sehen.

Oh Gott, das Blut! Sofort wird mir wieder schwindelig und Henry tätschelt besorgt meine Wangen, um mich bei Bewusstsein zu halten.
„Schön hierbleiben, mein zartbesaiteter Freund", befiehlt er und reicht mir eine Wasserflasche, die er offenbar aus der Küche geholt hat.

„Henry", stöhne ich. „Es tut mir so leid."
„Was meinst du jetzt?", lächelt er und schraubt den Verschluss von der Flasche, damit ich trinken kann. „Den unfassbar heißen Sex oder den Schreck, weil du einfach bewusstlos von mir herunterkippst?"

Ich trinke etwas von dem kühlen Getränk und streiche besorgt über seine geschwollene Lippe.
„Ich wollte dich nicht verletzen", wispere ich reumütig und er wuschelt liebevoll durch meine Haare.

„Ich nehme das als Kompliment", grinst er. „Das treffendste Wort dafür wäre wohl Azart."
Fragend sehe ich ihn an, setze dabei wieder die Flasche an meine Lippen und trinke weiter von dem erfrischenden Wasser.

„Russisch für Aufregung, Leidenschaft oder Glut, auch gern in Verbindung mit Risiken", erklärt Henry.
Ich gluckse vor Lachen und verschlucke mich dabei beinahe am Wasser in meinem Mund. Henry wischt die Tropfen, die mein Kinn hinablaufen, weg und nun ist er derjenige, der fragend schaut.

Ich schlucke schwer und sage lachend: „Dann hast du aber gerade eine dicke Lippe riskiert."
Henry bricht ebenfalls in schallendes Gelächter aus und wir beide gackern wie zwei Verrückt, bis uns die Tränen vor Lachen über die Wangen laufen.

•••

Dominic trägt heute ein auffallend bunt gemustertes Hemd im Hawaiistil und ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Schwester ihm dieses gekauft oder zumindest eine Empfehlung dafür ausgesprochen hat. Auch Henry hat solch ein Hemd im Schrank, lauter kleine Ananas sind darauf gedruckt, aber er zieht es nur selten an, weil Muster mich nervös machen.

Ich bemühe mich, nicht zu sehr auf die vielen kleinen Hulatänzerinnen auf dem weißen Hintergrund zu schauen und konzentriere mich stattdessen auf Henrys Hand, die mit den Stiften, die ich ihm zu Ostern geschenkt habe, kleine Skizzen in einen Block mit weißen Blättern malt. Henry liegt gut in der Zeit mit seinen Werken für die Galerie und mir scheint, als würde seine Kreativität mit jedem Tag, da die Eröffnung seiner Ausstellung näherrückt, noch ansteigen. Auch heute früh war er bereits im Atelier, hat mir aber versprochen, mich zu dem Treffen mit Dominic zu begleiten.

Der Freund meiner Schwester blättert durch die Ergebnisse meines Online-Berufstests, die er sich offenbar extra ausgedruckt hat.
„Wie fandest du die Fragen, Max?", will er von mir wissen und ich widerstehe dem Drang, mit den Augen zu rollen, als ich mich an die häufigen Wiederholungen mancher Fragen erinnere und deren geringen Antwortoptionen.

„Teilweise recht schwierig zu beantworten", sage ich stattdessen ehrlich.
„Und die Vorschläge? Für die Berufe, meine ich. Etwas dabei, was dich ansprechen würde?", fragt Dominic weiter und ich sehe zweifelnd zu Henry, der leise kichert, aber nicht von seiner Skizze aufschaut.
„Laborant oder alles, was mit Blut zu tun hat, wäre an der Stelle schon mal raus", erwähnt er ganz beiläufig und mir schießt die Röte in die Wangen.

Dominic hebt nur kurz seine Augenbrauen, nickt dann aber und streicht etwas auf einem seiner Zettel durch.
„Und den Steinmetz können wir auch weglassen", lächele ich verlegen. „Ich mag Staub nicht besonders."
Wieder ein freundliches Nicken und Dominic fügt hinzu: „Dann wird der Baustoffprüfer wohl auch nichts für dich sein."
„Mit einigen Berufsbezeichnungen konnte ich leider nicht besonders viel anfangen", gebe ich zu.

„Ich kann dir gern erklären, was hinter den einzelnen Begriffen steckt und welche Möglichkeiten man damit hat", schlägt er vor und lächelt dem Kellner zu, der ihm einen weiteren Eiskaffee bringt. Einen Frappuccino hat Dominic heute nicht bekommen, dafür aber auch keine eindeutigen Angebote durch das Servicepersonal.

Interessiert nicke ich und schlage mein Maibuch auf, um bereit für mögliche Notizen zu sein. Dominic schaut auf den Zettel und beginnt: „Assistenten für Wirtschaftsinformatik arbeiten vornehmlich in IT-Firmen. Du würdest lernen, Server aufzusetzen, Datenbanken zu installieren und Kunden zu supporten, ihnen also bei möglichen Problemen helfen."

Ich notiere eifrig, seufze aber schon beim Wort betreuen und Dominic erkennt das sofort. Er lächelt nett und meint: „Nicht so gerne telefonieren?"
Ich presse meine Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und schüttele den Kopf.
„Nun, es gibt sicherlich auch hier die Möglichkeit, den Supportanteil zu minimieren", lenkt er ein und Henry schaut von seiner Skizze zu mir.

„Hast du überhaupt einen Computer, Max?", fragt er neugierig und ich antworte: „Ich habe ein iPad."
„Wir können uns ja auch erst einmal die anderen Berufe anschauen", verkündet Dominic fröhlich. „Wenn es dich nicht schon bei der Beschreibung packt, wird es auch nicht das Richtige sein. Und genau das wollen wir ja finden."

„Vielleicht finden wir auch gar nichts", murmele ich betreten und Henry drückt nur stumm meine Hand.
„Hey", lächelt der Freund meiner Schwester mir aufmunternd zu. „Es muss auch nicht gleich heute sein. Manchmal muss man nur erst einmal die Augen öffnen, um überhaupt Dinge zu sehen, die da sind. Und dazu gehört auch auszusortieren, was man nicht möchte."

Ich sehe den blonden Mann auf dem Sessel vor mir an und verstehe plötzlich, warum Jenny und Henry ihn so mögen. Er ist ganz anders als dieser Steve oder andere Männer, die Jenny vorher kannte. Dominic ist ehrlich und interessiert an anderen und wirklich und ernsthaftig nett.
„Okay", sage ich vertrauensvoll zu ihm.
„Kann ich nur kurz noch etwas anderes fragen?", kommt es von Dominic und ich nicke.

„Meint ihr, es ist zu früh, Jenny den Schlüssel für meine Wohnung zu geben?", fragt er zweifelnd und ich höre, wie Henrys Stift neben mir auf den Boden fällt. Mein Freund strahlt über beide Ohren und klatscht begeistert in die Hände.
„Das ist auf keinen Fall zu früh", plappert er los. „Max und ich haben das ja nie wirklich offiziell gemacht, bei uns hat sich das so eingeschlichen, aber Jenny wird es lieben!"

Ich beobachte, wie seine Wangen vor Aufregung ganz rot werden und frage mich, wann ich ihm den Schlüssel zu meiner Wohnung gegeben habe. Oder wann wir beschlossen haben, dass er jetzt einfach immer bei mir ist und nicht ich bei ihm. Ich kann mich nicht daran erinnern, es ist so, wie er sagt - es hat sich so eingeschlichen. Hätte er es lieber anders gehabt? Ich notiere mir diese Frage in meinem Maibuch und lausche Dominics und Henrys Unterhaltung darüber, wie Jenny den Schlüssel bekommen soll.

„Schreib ihr einen Brief", mische ich mich ein und beide schauen mich verdutzt an.
„Einen Brief?", kommt es von Dominic.
„Ja, einen handgeschriebenen Brief, in dem du ihr erklärst, warum es dir wichtig ist, dass sie den Schlüssel bekommt und was du an ihr magst", überlege ich laut.
„Maxwell Foster, der versteckte Romantiker", säuselt Henry neben mir und gibt mir einen zärtlichen Kuss auf die Wange. „Die Idee ist zauberhaft."

Wortschatz | ✓Where stories live. Discover now