Synästhesie

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Zu Hause angekommen, stürze ich augenblicklich zum Bücherregal und suche das orangefarbene Oktoberbuch von Henrys und meiner ersten Begegnung heraus. Auch das rauchblaue Novemberbuch ziehe ich heraus und verstaue beide bei meinem aktuellen Julibuch in meinem Rucksack.
Anschließend suche ich meinen Fahrradschlüssel und mache mich eilig auf den Weg in die Galerie.

Ich bin nicht sicher, ob die Idee, die sich bei Liams Anruf plötzlich in meinem Kopf geformt hat, überhaupt Potenzial zur Umsetzung hat, doch nur Liam kann mir diese Frage beantworten. Und wenn das bedeutet, dass ich Henry auf diese Weise vielleicht helfen kann, so nehme ich die kurzfristige Gesellschaft dieses Schmierlings gern in Kauf. Zumindest scheint er etwas von seiner Arbeit zu verstehen und wir haben eine Gemeinsamkeit: Henry.

Als ich atemlos vor der Galerie ankomme, vergesse ich beinahe, mein Fahrrad anzuschließen. Liam kommt mir, heute in einer hautengen, weißen Jeans und einem mintfarbenen, ebenfalls hautengen Kurzarmhemd entgegen, als ich die Glastür öffne. Gibt es einen Dresscode für Angestellte dieser Galerie, dass nur hautenge Klamotten und mindestens ein weißes Teil erlaubt sind?

„Max", begrüßt er mich und bleibt mit gebührendem Abstand vor mir stehen. Offenbar hat er unsere letzte persönliche Begegnung nicht vergessen.
„Hallo Liam", sage ich und blicke sehnsüchtig in Richtung des Raumes, in dem ich die Fotos von Henrys Werken weiß.
„Sollen wir?", bietet er an und ich folge ihm in den Raum, in dem die Fotos noch immer die Wände zieren.

•••

Erst pünktlich zu meinem Feierabend hole ich Henry von Mr. Worms ab. Als ich den Buchladen betrete, liest Mr. Worms Henry gerade aus einem Buch über einen Mann vor, der Farben von Menschen sehen kann. Henry sitzt weiterhin unbeeindruckt neben ihm, doch ich lausche ein Weilchen gespannt, bis das Kapitel offenbar beendet ist.

„Gibt es sowas?", frage ich interessiert und Mr. Worms lächelt.
„Ich glaube schon. Sonst gäbe es kein Wort für solche Gaben. Synästhesie nennt man das."
Ich nicke und sehe fragend zu Henry, doch Mr. Worms zuckt nur lächelnd mit den Schultern. Das bedeutet wohl, dass es keine Veränderung gab.

„Wartest du hier auf uns, Henry?", richtet sich der ältere Mann an meinen Freund. „Max und ich sind gleich zurück."
Er kommt auf mich zu und geleitet mich den Gang nach hinten zu dem kleinen Rollwagen.
„Sie können morgen nicht kommen", stellt er fest, ohne dass ich ihn überhaupt um einen freien Tag bitten kann. „Das ist okay. Aber ich kann nicht den ganzen Tag-"
„Was?", rufe ich. „Nein, ich... danke, Mr. Worms. Ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie sich heute um Henry gekümmert haben. Ich habe bereits meine Schwester angerufen, sie kann morgen bei ihm bleiben."

Mr. Worms nickt verständnisvoll.
„Aber ich muss... Mr. Worms, ich habe eine Idee, wie ich zumindest einen Teil dieses ganzen... Schlamassels wiedergutmachen kann."
Mein Boss runzelt fragend die Stirn.
„Aber es war nicht Ihre Schuld, Max", sagt er.
„Das nicht, aber ich muss trotzdem etwas tun. Und ist nicht der eigentliche Sinn des Wortes Schlamassel? Eine unglückliche Situation. Etwas, das nicht gut ist, aber einmal gut war. Und das wieder gut zu machen? Das tue ich. Das versuche ich zumindest."

Ein warmes Lächeln ist die Antwort, die ich bekomme. Das und ein Seufzen, was mich meinen Vorgesetzten fragend anschauen lässt.
„Mit solch einer Herangehensweise, befürchte ich, Sie bald als meinen Mitarbeiter zu verlieren, Max. Sie werden nämlich ein ganz hervorragender Autor, wenn Sie diese Gedanken einmal der Welt präsentieren", klärt er mich auf.

Ich spüre Röte in meinen Wangen, doch schüttele schnell den Kopf. Ich habe jetzt keine Zeit für Schamgefühle oder Gedanken daran, ob ich mal ein Buch schreibe. Gerade geht es um Henry. Also lächele ich nur verlegen, murmele ein „Danke" und eile wieder nach vorn, um Henry abzuholen.

•••

„Ihr kommt zurecht?", frage ich am Freitagmorgen meine Schwester, die bereits lächelnd neben Henry auf unserem Sofa sitzt.
„Na klar", winkt Jenny ab. „Henry und mir wird schon nicht langweilig."
Ich reiche ihr das Buch, aus dem Mr. Worms Henry gestern vorgelesen hatte und sage: „Das scheint er zu mögen. Vielleicht liest du ihm daraus vor."
Interessiert streicht sie über den Einband mit den bunten Stiften und nickt.

„Und dann melde ich mich später wegen heute Abend, okay?", bringe ich hervor.
Ehe Jenny etwas erwidern kann, kommt Dominic aus dem Badezimmer und klatscht motiviert in die Hände.
„Wollen wir?"

Ich habe sowohl ihn als auch meine Schwester und natürlich Dr. Cooke in meinen Plan eingeweiht. Alle stimmten meiner Idee mit Freuden zu und Dominic bot unverzüglich seine Hilfe an, weshalb er mich auch in die Galerie zu Liam begleiten wird.

Meine Gliedmaßen kribbeln beim Gedanken daran, was noch alles zu tun ist und bei der Befürchtung, ob meine Idee ein Erfolg oder nur ein weiterer Schicksalsschlag für Henry wird. Sollte das Zweite der Fall sein, fürchte ich, wird Henry das kaum verkraften können. Nur so, wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben. Henry ist nicht Henry und wenn ich nur die kleinste Möglichkeit habe, ihn wieder lächeln zu sehen, das Funkeln in seinen schönen Augen, dann muss ich diese Möglichkeit wahrnehmen.

Ich nehme das silbergraue Notizbuch, welches ich gestern Abend, als Henry bereits im Bett lag, begonnen habe und schiebe es in meinen Rucksack. Silbergrau gehört in keinen Monat, aber in diesem Buch stecken all meine Hoffnungen, dass sich alles zum Guten wenden wird.

Ich streiche liebevoll über Jennys Schulter und gebe Henry einen Kuss auf seine weiche Wange, ehe ich Dominic aus der Wohnung folge. Mein Herz klopft ganz aufgeregt und ich bete innerlich, das Richtige zu tun, während ich zu Dominic ins Auto steige und wir zur Galerie fahren.

Wortschatz | ✓Where stories live. Discover now