Ildsjel

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Mr. Worms und ich sammeln allerlei Bücher zusammen, die meinem apathischen Henry vielleicht gefallen könnten. Während ich einige Werke mit spannenden Worten finde, wählt Mr. Worms Bildbände und sogar das Kinderbuch der kleinen Raupe Nimmersatt aus.

Henry quittiert den Stapel nur mit einem müden Blick, starrt dann jedoch weiter geradeaus.
„Wir sortieren die Bestellungen, Henry", flüstere ich ihm zu und gebe ihm einen Kuss auf die Stirn. „Wenn was ist, sind wir gleich dort hinten."
Wieder bekomme ich keine Reaktion und folge Mr. Worms schließlich zögerlich zu seinem kleinen Rollwagen, um meine Arbeit zu erledigen.

„Möchten Sie mir erzählen, was passiert ist, Max?", erkundigt sich Mr. Worms und ich berichte mit belegter Stimme von den Vorkommnissen des vergangenen Wochenendes.

Mr. Worms hört sich alles ruhig an, nickt und macht zustimmende Hmm-Geräusche, während er die Listen der Bestellungen sortiert und sich von mir die jeweiligen Bücher reichen lässt.

„Es muss furchtbar für ihn sein", überlegt er, nachdem ich geendet habe. „All das, wofür er so hart gearbeitet hat, ist plötzlich zerstört. Das kann einem ganz schön den Boden unter den Füßen wegreißen."
Ich nicke und blicke verzweifelt in die Richtung, in der Henry auf dem Kindersofa sitzt, obwohl ich ihn durch die Regale natürlich nicht sehen kann.
„Er hat großes Glück", sagt Mr. Worms und ich drehe mich verwundert zu ihm zurück.
„Glück?"
„Ja", lächelt der alte Mann. „Dass er jemanden hat wie Sie, Max. Sie sind für ihn da, egal ob seine Werke noch existieren oder nicht. Sie sind gerade seine Konstante, sein Fels, an dem er Halt findet."

„Ich habe gerade eher das Gefühl, dass er mir entgleitet", wispere ich und schlucke gegen den heißen Kloß in meinem Hals.
„Geben Sie ihm etwas Zeit, Max", rät mir mein Boss. „Er muss die Fakten erst aufnehmen, ehe er sie verarbeiten und hinter sich lassen kann. Henry ist ein Ildsjel, eine Feuerseele. Er brennt für die Dinge, die er tut. Und gerade wurde sein Feuer buchstäblich gelöscht. Nun muss er trocknen, ehe ein neuer Funke ihn entzünden kann."

Mit großen Augen sehe ich den alten Mann vor mir an.
„Sie hätten Autor werden sollen", sage ich und er winkt ab.
„Ich hab so meine Momente", lacht er. „Sie dürfen ihn solange mitbringen, wie Sie beide mögen. Es stört mich nicht und Ihre Nähe tut ihm gut."

•••

Der Dienstag und Mittwoch laufen ähnlich ab wie der Montag. Henry folgt mir als ein stiller Begleiter überall hin. Während Mr. Worms und ich die Bücher sortieren, Bestellungen machen und die Umgestaltung der Regale planen, sitzt Henry auf der kleinen Couch in der Kinderabteilung und fühlt mit seinen Fingern die meiste Zeit über die Löcher im Buch über ‚Die kleine Raupe Nimmersatt'.

Nach meinem Feierabend geht er an meiner Hand mit mir nach Hause, rollt sich in unserer Wohnung auf dem Sofa zusammen, während ich etwas Essen zubereite und isst es dann kommentarlos. Abends, wenn er duscht, sitze ich neben ihm auf dem Badezimmerfußboden und schreibe in mein Julibuch.

Ich schreibe nicht viel, denn es passiert nicht viel. Ich bin traurig, denn ich weiß nicht, wann Henry wieder Henry sein wird. Ob Henry wieder Henry sein wird.

Sowohl Dr. Cooke, als auch Dominic und Jenny sagen, es braucht seine Zeit, doch ich habe das dringende Gefühl, irgendetwas tun zu müssen, dass es besser wird.

Am Mittwochmorgen bekomme ich plötzlich einen Anruf von Liam aus der Galerie. Ich mag ihn noch immer nicht, doch ich halte ihm zugute, dass er mehr um Henrys Zustand als um die Tatsache, dass die Ausstellung nicht stattfinden kann, besorgt zu sein scheint. Natürlich kommt die Ausstellung dennoch zur Sprache und ich entferne mich leise von Henry, der gerade auf seinem Platz auf dem Kindersofa sitzt und in einem Fotoband aus alten Schwarzweißaufnahmen blättert, Mr. Worms neben ihm.

„Liam, was soll ich tun?", frage ich verzweifelt. „Er ist vollkommen apathisch. Ich habe Angst, dass er vollkommen zusammenbricht, wenn ich ihm einen Stift oder einen Pinsel gebe."
„Das verstehe ich, Max", seufzt der Mann am anderen Ende. „Dann werde ich dem Besitzer wohl oder übel mitteilen müssen, dass die Ausstellung nicht stattfinden wird. Soll ich dir die Fotos dann vorbeibringen oder meinst du, das wäre zu viel-"

„Fotos?", frage ich und auf einmal erinnere ich mich an den Tag in der Galerie, als Henry und Liam die Ausstellung planten. „Du hast die Fotos noch?"
„Natürlich", sagt Liam. „Aber meinst du, die würden ihm helfen, wieder-"
„Nein", erwidere ich hektisch und schüttele den Kopf, obwohl er es nicht sehen kann. „Er wird diese Bilder nie wieder malen können, aber... Liam?"
„Ja?"
„Können wir uns treffen?"
„Für die Fotos?"
„Für eine Idee, die ich habe. Ich... ich muss das gerade noch in meinem Kopf sortieren, aber ich schätze, du bist der beste Ansprechpartner dafür."
„Okay", antwortet er skeptisch. „Ich bin noch bis vier in der Galerie. Komm einfach vorbei."

Ich lege auf und eile zurück zu Henry und Mr. Worms. Mein Boss schaut zu mir auf und runzelt die Stirn. Nervös trete ich von einem Bein aufs andere, denn gerade überschlagen sich die Gedanken in meinem Kopf.
„Max?", fragt Mr. Worms.
„Ich... muss... ich habe einen Einfall und..."
„Soll ich auf Henry aufpassen?"
„Würden Sie das tun? Ich weiß, es ist meine Arbeitszeit und ich hole das natürlich nach. Ansonsten rufe ich Jenny oder Dominic an, damit sie-"

„Max", unterbricht mich der ältere Mann und tätschelt liebevoll den Unterarm meines stillen Freundes. „Wir kommen gut zurecht, oder Henry?"
Henry reagiert nicht, er blättert nur stoisch durch den Bildband und streicht mit seinen Fingern über die glatten Seiten.

„Okay", presse ich hervor. „Ich beeile mich."
Aus dem Augenwinkel sehe ich Mr. Worms noch nicken und höre, wie er Henry vorschlägt, sich einen anderen Bildband anzusehen, während ich meinen Rucksack suche und mich eilig auf den Weg nach Hause mache.

Wortschatz | ✓Where stories live. Discover now