vermaledeit

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Beim Pflücken auf dem Feld lerne ich von Henry, dass es auch noch allerhand andere Erdbeersorten mit den witzigsten Namen gibt. Asia, Korona oder Mieze Schindler. Bislang dachte ich immer, alle Erdbeeren sind gleich, aber an diesem Tag lerne ich, dass Sonata früh reift und sehr aromatisch ist, Asia unfassbar große und zum Teil absurd wirkende Früchte hervorbringt, die etwas wässriger sind und dass man nach etwa einer Stunde ununterbrochenem Naschen ganz schön Bauchweh bekommt.

Henrys und mein Korb sind prall gefüllt und auch der, den Jenny und Dominic sich geteilt haben, zeigt viele rote Beeren als Inhalt.
„Ich glaube, ich habe mehr gegessen als wir in diesen Körben haben", stöhne ich und Henry lacht. Seine Lippen sind ganz rot vom Erdbeersaft und ich nehme an, ich sehe ganz ähnlich aus.
„So sparen wir uns das Abendessen", kichert er.

•••

An meinem vierten Arbeitstag im Book Worms –Dominic war noch immer so freundlich, mich morgens mit dem Auto mitzunehmen – steht Henry plötzlich vor dem Buchladen, als ich gerade Feierabend habe.
„Hey", sage ich überrascht und gebe ihm einen Kuss auf den breit grinsenden Mund. „Was machst du denn hier?"
Die letzten Tage verbrachte er fast ausschließlich im Atelier, da der Termin der Ausstellung immer näherrückt. Ich spüre seine Aufregung und weiß, dass er am Samstag einen wichtigen Termin zur Absprache mit der Galerie hat.

„Ich habe etwas für dich", erklärt Henry stolz und ich beginne sofort zu strahlen.
„Gehen wir wieder Erdbeeren pflücken?", frage ich begeistert.
„Das können wir vielleicht am Wochenende machen, aber ich habe hier etwas anderes", erwidert er und zeigt auf zwei glänzende, neu aussehende Fahrräder, die vor dem kleinen Schaufenster des Book Worms stehen.

„Fahrräder?", mache ich verblüfft. Henry nickt.
„Ich weiß, dass du nicht gern U-Bahn fährst mit den ganzen Menschen darin und mit dem Auto fahren ist ebenfalls mehr Stress als Entspannung und außerdem weiß ich gar nicht, ob du einen Führerschein hast", plappert er aufgeregt.
„Hab ich nicht", murmele ich und betrachte das ungewöhnlich groß wirkende Fahrgerät.
„Dann ist doch Radfahren die perfekte Lösung", klatscht Henry begeistert in die Hände. „Da wir allerdings beide etwas.. nun.. aus der Übung sind und man nach solch einem langen Arbeitstag vielleicht etwas matt sein könnte, habe ich uns Elektrofahrräder besorgt."

„Und dafür braucht man keinen Führerschein?", will ich wissen und nehme den schwarzen Helm, den Henry mir reicht, entgegen.
„Nein", erklärt er. „Der Motor unterstützt nur deine Kraftaufwendung. Er läuft nur, wenn du trittst."
„Ich weiß nicht, Henry", möchte ich zu bedenken geben, doch Henry wendet bereits eines der Geräte und drückt mir den Lenker in die Hand.
„Es ist wie beim Erdbeerenpflücken, Maxwell", flüstert er mir zu. „Erst probieren und dann feststellen, wie toll es ist. Habe ich dir jemals schon etwas gezeigt, das dir nicht gefallen hat?"

Ich überlege kurz, doch mir will nichts einfallen. Überhaupt kann ich mich gerade nicht darauf konzentrieren, denn mein Kopf füllt sich mit allerlei Fragen. Wann bin ich zuletzt Fahrrad gefahren? Kann man Fahrradfahren vergessen? Es heißt, man verlernt es nie, aber ist das vielleicht nur eine Legende? Wie schaltet man diesen Motor ein? Wie schaltet man diesen Motor wieder ab? Kann der Motor anfangen zu brennen? Wo muss ich überhaupt lang, wenn ich mit dem Fahrrad nach Hause möchte? Wie hoch ist die Unfallquote mit Fahrrädern in New York?

Henrys Hand an meiner Wange verlangsamt mein Gedankenkarussell etwas.
„Hey", macht er. „Wir schieben erst einmal bis zu dem Parkplatz, wo Dominic und Jenny letztes Mal auf uns gewartet haben und dort üben wir, in Ordnung? Ich bin die ganze Zeit bei dir."
Zögerlich nicke ich und umfasse den Lenker des Rads fest, als Henry sich in Bewegung setzt, sein Rad neben sich schiebend.

„Willst du gar nicht nachfragen?", grinst er und ich blicke ihn verwundert an. Was fragen? Wie er auf solche eine Idee kommt? Es ist nicht die erste aberwitzige Idee von Henry, darum kam mir diese Frage noch nie in den Sinn. Ob er Fahrrad fahren kann? Sonst hätte er wohl kaum Räder gekauft. Wobei Henry auch ein Fahrraderwerb ohne das Können eines zu benutzen zuzutrauen wäre. Wo hat er die Räder überhaupt gekauft? Das könnte seine gewünschte Frage sein.

„Wo hast du die Räder gekauft?", frage ich also und Henry sieht ein wenig enttäuscht aus. Oh, die Frage wollte er nicht hören.
„Ist das nicht irrelevant?", fragt er zurück. „Viel interessanter ist es doch, wie ich sie zum Buchladen bekommen habe." Seine Augen strahlen wie bei kleinen Jungs, die gerade einen Streich aushecken oder im Begriff sind, einen besonders albernen Witz zu erzählen. Pretoogies eben.

„Wie hast du die Fahrräder zum Buchladen bekommen?", frage ich nun in der Tat verwundert. Wie konnte er zwei Räder durch die Stadt manövrieren?
„Dominic und Jenny", grinst er stolz. „Dominic und ich sind gefahren, Jenny hat uns mit Dominics Auto begleitet und ihn dann mitgenommen. Und die Räder sind von Onkel Buck, um auch deine andere Frage zu beantworten. Ich hatte zu Ostern einen ordentlichen Batzen Geld auf dem Konto mit dem Zusatz ‚Frohe Ostern, Harry'. Hab ihm eins meiner Bilder geschickt und ihm dazu geschrieben, dass er es im Salon aufhängen soll. Er weiß nie, wo die Bilder hingehören."

„Und dann hängt er es dort auf?", frage ich neugierig, die Fahrräder für einen Moment vergessen.
„Jedes einzelne Bild hängt dort, wo ich es ihm gesagt habe. Er mag ein alter Kauz sein und nicht viel reden, aber er mag seinen Neffen Harry sehr, wenn auch aus der Ferne", kichert Henry und zu meiner Überraschung stehen wir bereits auf dem großen und glücklicherweise beinahe leeren Parkplatz. „Früher, als ich noch bei ihm wohnte und ihm manchmal ein neues Bild brachte, rief er immer: ‚Dann musst du mir aber sagen, wo ich dieses vermaledeite Bild aufhängen soll, Harry.'
Bis ich das Wort ‚vermaledeit' einmal nachschlug, dachte ich tatsächlich, es wäre ein Synonym für schön oder hübsch."

„Ist es das nicht?", hake ich stutzig nach.
Henry schüttelt lachend den Kopf.
„Eigentlich bedeutet es sowas wie verflucht oder verdammt. Aber ich bin mir sicher, Onkel Buck meinte es stets als Kompliment. Und jetzt ab in den Sattel mit dir, Cowboy. Ich will sehen, ob du noch Radfahren kannst."

Wortschatz | ✓Where stories live. Discover now