engentado

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Henry und Dominic reden seit etwa dreißig Minuten ununterbrochen und ich bin froh, dass Jenny auf Dominics Schoß sitzt und ihm gelegentlich Küsschen auf die Wange gibt oder er ihr über den Arm streichelt. Man sieht, dass beide sehr verliebt ineinander sind, aber mein Freund plappert so begeistert mit dem blonden Mann, dass ich ein wenig Sorge habe, dass er sich auch in Dominic verliebt.

Das wäre schlecht. Zum einen wäre Jenny dann unfassbar traurig und zum anderen wäre ich noch viel trauriger. Dann wären da wieder nur Jenny und ich und mein Leben wäre wieder wie eins dieser verblichenen Fotos und ich würde die Zeit mit Henry schrecklich vermissen. Ich würde vermutlich nur auf dem Badezimmerboden liegen und Dr. Cooke müsste mir diese Wattemedizin geben, aber Dr. Cooke hat bald nicht mehr so viel Zeit, weil er ja Vater wird und-

Henrys Hand an meiner Wange stoppt mein Gedankenkarussell kurzzeitig und mir wird bewusst, dass alle mich besorgt ansehen. Wurde ich wohl angesprochen?
„Alles okay, Maxwell?", möchte Henry wissen und ich schlucke. Wie immer spreche ich den letzten Gedanken, den ich hatte, direkt aus: „Dr. Cooke hat bald nicht mehr so viel Zeit."

Statt wie andere Menschen die Stirn verwirrt zu runzeln, nickt Henry verständnisvoll und zu meiner Überraschung schlägt Dominic vor, dass wir noch ein wenig durch den Park gehen könnten. Ich würde eigentlich lieber nach Hause gehen, mich auf die Fliesen legen und bin gerade im Begriff, genau das zu sagen, als Dominic auf mein himmelblaues Maibuch zeigt und meint: „Ist das dein Tagebuch, Max? Jenny hat mir erzählt, dass du ganze Bücher vollschreibst. Das finde ich total bewundernswert."

Stutzig ziehe ich meine Augenbrauen zusammen. „Bewundernswert? Weshalb? Ich schreibe meine Beobachtungen auf", antworte ich und in Jennys Gesichtsausdruck erkenne ich Enttäuschung. Vermutlich war meine Antwort etwas schroff.

Doch Dominic scheint etwas Pochemuchkahaftiges von Henry zu haben, denn er redet unbeirrt fröhlich weiter: „Ich habe das auch mal versucht, aber nach drei Tagen hilflos aufgegeben. Ich kann nie in Worte fassen, was ich so sehe oder fühle und wenn ich es dann lese, klingt es ganz fürchterlich oder ich vergesse einfach, dass ich Dinge aufschreiben wollte. Dafür muss man wirklich Talent haben."

„Das hat Max in der Tat", bestätigt Henry neben mir und verschränkt wieder unsere Finger miteinander. Diese kleine Geste zeigt mir, dass Henry mich zumindest körperlich näher an sich hat als diesen Dominic. Noch.
Ehe ich mich fragen kann, was gerade los ist mit mir, redet Henry weiter: „Ich habe ihm schon gesagt, dass er eines seiner Bücher vielleicht mal an einen Verlag schicken sollte, denn sie lesen sich wirklich gut."

„Was machst du beruflich, Max?", fragt Dominic interessiert. „Henry hat mir ja schon alles über sein Künstlerleben erzählt, da frage ich mich, ob du auch etwas in der Richtung machst oder etwas komplett anderes?"
Ich stehe so abrupt auf, dass mein himmelblaues Maibuch von meinem Schoß rutscht und polternd auf den Boden fällt. Henry hebt es auf und ich höre, wie Jenny flüstert: „Max arbeitet nicht, Schatz."

Ich spüre, dass meine Wangen ganz warm werden und auch in meiner Kehle befindet sich ein heißer Kloß, der mich beim Atmen hindert. Wortlos gehe ich an dem Tisch, auf dem unsere leeren Getränke stehen, vorbei und verlasse das Restaurant.

Eigentlich möchte ich gern auf die Fliesen in meinem Badezimmer, aber die frische Luft hilft mir etwas beim Atmen und so steuere ich auf den Park zu, um zu meiner üblichen Bank zu gelangen. Ich fühle mich schlecht, weil ich einfach aufgestanden und gegangen bin, ohne etwas zu sagen. Aber ich fühle mich auch schlecht, weil ich nichts zu der Unterhaltung beitragen konnte und nun Jenny von mir enttäuscht ist. Dafür verstehen Henry und Dominic sich hervorragend mit ihren vielen Fragen und ihrem Reden und ihrem Lachen und bald malt Henry hübsche Bilder für Dominic, denn Notizbücher wird er ihm wohl nicht schenken, weil er ja nicht gut im Schreiben ist.

Meine Bank ist besetzt. Ich stehe etwa fünfzig Meter von ihr entfernt und sehe, dass eine Familie mit fürchterlich lauten Kindern auf dem Platz sitzt, den ich normalerweise belege. Meine Hände sind neben meiner Hüfte zu Fäusten geballt und ich möchte am liebsten schreien. Stattdessen schließe ich meine Augen und versuche, mich auf meine Atmung zu konzentrieren.

„Engentado?", fragt plötzlich Henrys Stimme hinter mir und ich habe den Impuls, einfach wegzulaufen. Heute habe ich ohnehin schon alle vor den Kopf gestoßen.
„Zu viele Leute und du wolltest lieber allein sein?", präzisiert er seine Aussage und ich atme tief aus, bevor ich meine Augen wieder öffne.
„Ihr habt euch doch so auch ganz fantastisch unterhalten", brumme ich.

Henry kommt zu mir herum und legt seine Hände an meine Wangen.
„Möchtest du mir sagen, was dich verstimmt hat?"
„Magst du ihn?", frage ich direkt und blicke fest in seine Augen, um in ihnen erkennen zu können, ob er mich beschwichtigen will.
„Er ist perfekt für Jenny", lacht Henry und seine Augen funkeln begeistert. Schnell ziehe ich mein Gesicht aus seinen Händen, wende mich ab und beiße meine Zähne fest zusammen.

„Maxwell?", kommt es alarmiert von Henry und er steht wieder vor mir. „Bist du eifersüchtig?"
„Weil der Freund meiner Schwester sich in dich verlieben wird, weil du so wundervoll bist und dann sind Jenny und ich wieder allein? Dann ist mein Leben wieder so verblichen und ich kann nicht zu Dr. Cooke, weil er ein Baby bekommt. Ja, das verstimmt mich, Henry", knurre ich und kämpfe gegen die Tränen, die von innen gegen meine Augen drücken.

Und natürlich ist Henry wundervoll, denn er legt einfach nur seine Arme um meine Taille und flüstert: „Ich liebe dich, Maxwell."
Bockig denke ich: ja, noch!, sage aber nichts. Stattdessen hängen meine Arme schlaff herunter und ich versuche, ins Nichts zu blicken.
„Und Dominic ist sowas von verschossen in deine Schwester. Er ist wirklich nur nett und sieht sie so an, wie ich dich jeden Tag ansehe. Und das wird sich nicht ändern", flüstert Henry.

„Ich bin langweilig", seufze ich und Henry schüttelt den Kopf.
„Du bist alles andere als langweilig, Maxwell", sagt er lächelnd. „Und ich denke, du kannst Dominic dankbar sein."
„Wofür?"
„Ich schätze, dank ihm haben wir herausgefunden, was du suchst."
Fragend sehe ich meinen Freund an und er grinst breit, bevor er hinzufügt: „Und außerdem weiß ich jetzt, dass du in eifersüchtig ganz schön süß bist."

Ich seufze und lasse es zu, dass er meine schmollenden Lippen küsst.
„Wollen wir zu ihnen gehen?", bietet Henry an.
„Hältst du meine Hand?", frage ich und er schmunzelt.
„Nur deine. Abgesehen davon würde Jenny sowohl dich als auch mich auf dem Scheiterhaufen verbrennen, wenn wir ihren hübschen Surferboy anfassen würden."

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