Arbeitersekt

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Das Book Worms ist ein winziger Laden, dessen Erscheinung fast vollkommen in der Fassade des Blocks, in dem er sich befindet, untergeht. In seinem kleinen Schaufenster sind nur wenige Bücher ausgestellt und ihren verblichenen Seiten nach zu urteilen auch schon recht lange. Dafür erkennt man im Hintergrund hohe Regale, die randvoll mit Büchern sind.

Mein erster Gedanke, als ich hindurchsehe, gilt dem Buchladen aus der unendlichen Geschichte von Michael Ende und unwillkürlich überkommt mich das Bedürfnis, den Laden zu betreten und durch die unzähligen Bücher zu stöbern.

Dominic tippt mir auf die Schulter und als ich aufschaue, nickt er in Richtung der kleinen Eingangstür. Er öffnet sie und ein kleines Glöckchen erklingt. Ehrfürchtig betrete ich das Geschäft und atme tief ein. Der Geruch von Papier und Büchern ist allgegenwärtig und ich fühle mich beinahe wie zu Hause in meinem Wohnzimmer. Fast erwarte ich, dass Karl Konrad Koreander, der kauzige Buchhändler aus der unendlichen Geschichte, um die Ecke kommt.

Stattdessen kommt ein dünner, älterer Mann, etwa Ende sechzig, aus dem Gang zwischen zwei Regalen auf uns zu. Er trägt ein braunes Poloshirt und eine beigefarbene Chinohose und dazu, sehr zu meiner Überraschung, hellblaue Laufschuhe mit neonorangenen Schuhbändern.
„Hallo", begrüßt er uns und gibt zunächst Dominic die Hand, bevor er mich freundlich ansieht.

„Hallo Mr. Worms", sagt Dominic und legt mir vorsichtig die Hand auf die Schulter. „Das hier ist Max Foster, von dem ich Ihnen erzählt habe."
Mr. Worms lächelt mich freundlich an und nickt.
„Hallo Max", sagt er zu mir. „Ist es in Ordnung, wenn ich Max sage oder ist Mr. Foster erst einmal angenehmer?"
„Max ist okay", murmele ich und blicke Dominic hilfesuchend an.

„Dann kommen Sie mal mit, Max", lacht der Mann und winkt Dominic zum Abschied. „Bis bald, Mr. Hill."
Dominic lächelt etwas unbeholfen und sieht mich dann fast schon entschuldigend an.
„Dann mal viel Spaß."
Er verlässt den kleinen Laden und das kleine Glöckchen an der Tür klingelt erneut.

Ich folge Mr. Worms den Gang entlang, aus dem er kam und blicke mich zwischen all den Büchern um. Sie scheinen in Genre unterteilt und darin jeweils nach dem Nachnamen des Autors sortiert zu sein. Ich frage mich, wer sich jemals auf diese Art der Sortierung festgelegt hat, denn nach meinem Gefühl ist es bei manchen Büchern schwer, sie nur irgendeinem oder überhaupt einem Genre zuzuordnen.

Wäre es dann nicht sinnvoller, nur alphabetisch nach den Nachnamen der Autoren zu sortieren? Was aber, wenn jemand ein Buch sucht, nicht aber den Namen des Autors kennt? Wenn man alphabetisch nach Buchtiteln suchen würde, stünden vermutlich unfassbar viele Bücher unter dem Buchstaben ‚D', weil viele Buchtitel mit einem Artikel beginnen. Der Vorleser, Das Parfum, Die Tribute von Panem, Die Chroniken der Unterwelt.

Ich stoße gegen etwas Hartes und stelle fest, dass Mr. Worms an einem kleinen Tisch mit kleinen Rollen an den Füßen inmitten des Ganges zum Stehen gekommen ist. Gegen eben jenen Tisch bin ich gelaufen und nun fallen allerlei Blätter und Notizzettel, die darauf lagen, zu Boden.
„Oh", mache ich überrascht und meine Atmung beschleunigt sich augenblicklich.
„Nicht schlimm", lacht Mr. Worms und beginnt, die Zettel aufzusammeln. „Ich war ohnehin noch nicht fertig mit dem Sortieren. Worüber haben Sie gegrübelt?"

Ich blicke ihn an und sehe in seinen Augen ein ähnlich interessiertes Funkeln wie bei Henry immer.
„Ich.. die Sortierung der Bücher", murmele ich. „Manche Bücher kann man kaum einem Genre zuordnen und wenn man sie alphabetisch nach Titeln sortierte, wäre es auch schwierig."
„Das ist richtig, dann stünden die meisten vermutlich beim Buchstaben ‚D'", spricht er er meinen vorherigen Gedanken aus. Verblüfft nicke ich und er fährt fort: „Wenn man die Bücher unter ‚D' dann allerdings nochmals alphabetisch ordnen würde, würde es vielleicht gehen."

„Oder man sortiert sie gleich nach dem Wort nach dem Artikel im Titel", schlage ich vor und Mr. Worms sieht mich begeistert an.
„Die Idee finde ich gar nicht so schlecht", freut er sich. „Darüber sollten wir später auf jeden Fall noch ausführlicher sprechen. Möchten Sie mir jetzt gern mit diesen Bestellungen helfen, Max?"

Mr. Worms hält die Blätter, die vorher auf Grund meiner Unachtsamkeit auf dem Boden lagen, in den Händen und zeigt sie mir.
„Das sind Buchbestellungen für einige meiner Kunden", erklärt er. „Bislang sind die Bücher nach der klassischen Gruppenaufstellung sortiert, also zunächst nach Genre gruppiert, wie Sie ja schon korrekt erkannt haben, und innerhalb des Genres alphabetisch nach dem Nachnamen des Autors. Glücklicherweise steht das Genre immer auf der Bestellung dabei, so dass man nicht alles im Kopf haben muss."
Er lacht beim letzten Satz und hält mir aufmunternd einen der Zettel hin.

Zögerlich nehme ich den Zettel und erkenne, dass sechs Bücher auf der Liste darauf stehen.
„Wir sammeln die Bücher hier auf dem Tisch und jede Bestellung bekommt ein eigenes Notizzettelchen, damit wir sie auseinanderhalten können", stellt Mr. Worms klar und nimmt sich selbst einen der Bestellzettel vor.

•••

Zwei Stunden später haben Mr. Worms und ich alle Bestellungen zusammengesucht, sortiert, beschriftet und in einem Schrank unter dem Tresen zur Abholung verstaut. Ich habe vorgeschlagen, die Bestellungen untereinander alphabetisch nach dem Nachnamen des Bestellers zu sortieren und Mr. Worms hat diesen Einfall mit Freude angenommen.

Nun stehen wir hinter dem Tresen und Mr. Worms sieht etwas verloren aus. Die Tatsache, dass dies in seinem eigenen Laden der Fall ist, macht ihn für mich irgendwie noch sympathischer.
„Es tut mir leid, Max", sagt er verlegen. „Normalerweise bin ich um diese Zeit noch mitten in meinen Bestellungen. Jetzt ist mein üblicher Tagesablauf etwas durcheinander geraten."
„Das kann ich sehr gut verstehen, Mr. Worms", sage ich leise. „Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie verwirrt habe."

„Nein", winkt er ab. „Das ist kein Problem. So können wir uns anderen Dingen widmen. Darf ich Ihnen vorher etwas Arbeitersekt anbieten?"
Stirnrunzelnd blicke ich auf meine Armbanduhr, es ist noch nicht einmal ganz Mittag.
„Ich... denke nicht", erwidere ich langgezogen und Mr. Worms lacht laut auf.
„Mit Arbeitersekt wird scherzhaft nur Mineralwasser bezeichnet, Max", beruhigt er mich. „Oh je, Sie dachten jetzt vermutlich, ich bin ein Alkoholiker."
„Nein", sage ich schnell, obwohl mir der Gedanke in der Tat für einen Moment kam. „Aber Mineralwasser nehme ich gern. Ich kenne nur den Ausdruck Château de la Pompe."

Mr. Worms grinst und wackelt wie ein Lehrer mit dem Zeigefinger.
„Château de la Pompe bezeichnet das Leitungswasser, lieber Max. Arbeitersekt kommt aus der Flasche. Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen meinen-" Er macht mit seinen Fingern Gänsefüßchen in der Luft. „Weinkeller."

Wortschatz | ✓Where stories live. Discover now