Iktsuarpok

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Ich habe kaum Appetit, aber zwinge mich eine Scheibe Toast zu essen, um Jenny einen Gefallen zu tun. Immer wieder sehe ich auf Henrys und mein Handy, doch bislang hat Dr. Cooke sich noch nicht wieder gemeldet.

Dominic und Jenny reden leise miteinander und nach dem Essen schlägt Jenny vor, dass wir gemeinsam zum Atelier fahren und Henrys und mein Fahrrad abholen sollten. Immerhin muss ich morgen früh wieder zur Arbeit ins Bookworms.

Beim Gedanken daran morgen wieder arbeiten zu gehen, wird mir ganz schwindelig. Wie soll ich etwas anderes tun können, als mir Sorgen um Henry zu machen?

Jenny legt ihren Kopf auf meine Schulter und seufzt leise.
„Es wird alles wieder gut, Max", flüstert sie.
„Wie kannst du das wissen?", frage ich erstickt. „Vielleicht wird alles noch schlimmer. Vielleicht kommt Henry nie wieder nach Hause. Vielleicht wird er nie wieder malen. Vielleicht verklagt ihn die Galerie und er muss ins Gefängnis."
Meine Stimme wird mit jedem Satz panischer und mein Atem geht immer schneller.

Dominic steht ruckartig vom Tisch auf und blickt mich eindringlich an.
„Wir fahren jetzt die Räder holen", befiehlt er streng. „Hier herumzusitzen und sich den Kopf zu zerbrechen, hilft niemandem." Um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen, holt er seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche und klappert demonstrativ damit herum.

Und so fahren wir zu dritt in Dominics Auto zurück zu Henrys Atelier. Ich sitze auf der Rückbank, Henrys und mein Telefon in meinem Rucksack und beobachte, wie Jenny vorn neben Dominic nach dessen Hand greift. Ich freue mich sehr für meine Schwester, dass sie jemanden wie Dominic gefunden hat, doch in Momenten wie diesen fehlt mir Henry noch mehr.

Vor dem Atelier klettere ich aus dem Auto und blicke nach oben zu dem Fenster, an dem Henry vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden stand.
„Weißt du, wo Henrys Fahrrad steht?", fragt Dominic hinter mir und ich nicke.
„Vermutlich im Hinterhof", erwidere ich gedankenverloren.
„Ich schaue mal nach", verkündet er und setzt sich in Bewegung.

Ich hingegen betrete das Gebäude erneut und gehe die Stufen nach oben. Ich weiß nicht, was ich mir davon verspreche, noch einmal ins Atelier zu gehen, aber der Drang ist so stark, dass ich ihm nachgeben muss. Wieder schlägt mir der feuchte, modrige Geruch entgegen und ich blicke mich im Atelier um.

Keines der Bilder hat die Sprinklerdusche überlebt, erkenne ich nun im klaren Tageslicht. Im Prinzip kann man den gesamten Inhalt des Ateliers auf den Müll werfen, denn weder der Sitzsack noch der Parkettboden, dessen Holz an einigen Stellen bereits zu quellen scheint, oder die unbenutzten Leinwände scheinen noch für irgendetwas brauchbar zu sein.

Dominic sagte, die Versicherung des Vermieters würde für alles aufkommen, doch kann man so etwas überhaupt ersetzen? Es sind nicht nur Gegenstände, die zerstört wurden.
Es sind Erinnerungen.

Verstohlen wische ich mir eine Träne vom Gesicht und gehe wieder nach unten. Ich bin mir sicher, dass weder Henry noch ich an diesen Ort zurückkehren werden. Wenn er jemals wieder malen wollen wird, werden wir einen neuen Platz für ihn finden müssen, dessen bin ich mir sicher.

Unten erwartet mich Dominic mit Henrys Fahrrad in den Händen und erklärt, dass Jenny das Auto zurückfahren wird. Ich nicke ihm nur stumm zu, befreie mein eigenes Rad von seinem Schloss und gemeinsam machen wir uns stillschweigend auf den Weg zurück zu meiner Wohnung.

Zu Hause hilft Dominic mir, die Räder in den Keller zu bringen und als wir oben ankommen, hat Jenny uns Eistee bereitgestellt. Keiner von uns sagt etwas und immer wieder gehe ich zum Fenster, schaue nach draußen, oder blicke auf die Mobiltelefone, um vielleicht doch eine Nachricht oder ein Lebenszeichen von Dr. Cooke zu bekommen.

Henry hatte auch dafür einmal ein Wort.
Iktsuarpok nannte er es. Der Gang vor die Tür oder der Blick aus dem Fenster, um zu überprüfen, ob die Person, auf die man sehnsüchtig wartet, endlich gekommen ist.

Gerade als Henry viel Zeit im Atelier verbrachte, habe ich das oft praktiziert und mehr als einmal stand ich am offenen Fenster, so dass er mich schon von weitem warten sehen konnte, wenn er nach Hause kam. Die Sehnsucht, die ich damals verspürte, war nicht annähernd mit dem zu vergleichen, was ich jetzt gerade fühle.

„Ihr könnt auch nach Hause fahren", schlage ich Jenny und ihrem Freund vor. „Ich melde mich, wenn ich etwas höre."
Wieder stehe ich am Fenster und blicke sehnsüchtig nach unten, als ein Taxi direkt vor dem Gebäude hält. Mein Herz schlägt hoffnungsvoll etwas schneller und zu meiner Verblüffung steigt zunächst mein Therapeut, der sichtlich müde und erschöpft erscheint, aus dem Auto und hält jemandem die Tür auf.

Ehe Jenny oder Dominic reagieren können, stürme ich an ihnen vorbei aus der Wohnung, nehme drei Treppenstufen auf einmal und stürze fast auf dem Weg nach unten, wo ich atemlos die Haustür aufreiße.

Ein blasser Henry wird von Dr. Cooke auf mich zugeführt und ich sehe meinen Arzt erwartungsvoll an, als bräuchte ich eine Erlaubnis, meinen Freund zu berühren. Dr. Cooke nickt leicht und ich trete zögerlich zu Henry, um seine Hände zu ergreifen, mein Herz wild pochend in meinem Inneren.

„Hey", mache ich leise und sehe in sein schönes, wenn auch müdes Gesicht.
„Hey", macht auch Henry und blickt mich durch stumpfe Augen an.
„Lasst uns reingehen", verkündet Dr. Cooke und bezahlt den Taxifahrer.

Oben lässt Henry sich widerstandslos von mir aufs Bett legen und schließt fast sofort seine Augen. Fragend drehe ich mich zu Dr. Cooke, der nur leicht nickt und mir bedeutet, ihm ins Wohnzimmer zu folgen. Jenny reicht ihm bereits ein Glas Eistee und umarmt ihn fest.
„Herzlichen Glückwunsch, Dr. Cooke", sagt sie und er lächelt matt.
„Es tut mir so leid", murmele ich ihm zu und hoffe, er versteht, dass ich damit meine, ihn seiner kleinen Familie entrissen zu haben.

„Es war vollkommen verständlich, Max", beruhigt er mich. „Eleanor wollte ohnehin erst einmal schlafen und die Kleine ist wohlauf. Ich fahre gleich wieder hin."
„Wie haben Sie Henry da raus bekommen?", will ich wissen.
„Nun, ich habe mit dem zuständigen Arzt gesprochen und als sein Therapeut für Henrys stabilen Zustand gebürgt. Ich habe ihm das Lithium gegeben und es ist wichtig, dass du dafür sorgst, dass er es auch weiterhin zweimal täglich nimmt. Die nächste Dosis wäre heute Abend dran", erklärt er in seiner ruhigen Art. „Es wird eine gewisse Zeit dauern, bis er das Vorgefallene verkraftet und es verarbeiten kann und darum sollte er in der nächsten Zeit nicht allein gelassen werden. Ich habe zwar zunächst eine berufliche Pause, aber ihr kommt bitte beide am Dienstag und am Donnerstag zu mir in die Praxis, Max."

Ergeben nicke ich und knete nervös meine Hände. „Wird... wird er wieder Henry sein?", frage ich erstickt und mein Arzt zuckt hilflos mit den Schultern.
„Ich hoffe es, Max", sagt er leise. „Ich hoffe es sehr."

Wortschatz | ✓Where stories live. Discover now