Kumquat

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Frisch geduscht und mit einem breiten Grinsen auf unseren Gesichtern gehen Henry und ich Hand in Hand die Treppen nach unten. In der Hosentasche meiner leichten Hose klappert der kleine Schlüssel von Henrys Fahrradschloss.
„Dann treffen wir uns gleich wieder hier?", fragt Henry schmunzelnd und ich nicke zustimmend, während er sein Fahrrad aus dem Hausflur nach draußen schiebt. „Ich kann dann ja schon einmal den Korb vorbereiten."

Ich lache kurz auf und er sieht mich verwirrt an.
„Ich wette, ich bin schneller wieder hier als du", kichere ich. „Du findest bestimmt noch etwas, was du verbessern oder ergänzen kannst."
„Kein Pinsel", schwört Henry und legt dabei sogar seine Hand über sein Herz. „Heute nur Maxwell und Henry."
Er beugt sich vor und küsst meine Lippen.

Ich blicke ihm nach, als er auf sein Fahrrad steigt und in Richtung des Ateliers davonradelt, bevor ich mich zu Fuß auf den Weg zur Galerie mache. Dieses Mal achte ich peinlichst genau darauf, nicht mitten auf einer Straße, die ich überquere, anzuhalten. Anders als beim letzten Mal, als ich diesen Weg zurücklegte, geht es mir jetzt ausgesprochen gut. Henry hatte wirklich recht. Der Versöhnungssex war unglaublich. Das ist Sex mit Henry in aller Regel immer, aber nach diesem schrecklichen Abend und der Nacht ohne Henry hat es sich noch intensiver angefühlt.

In Gedanken überlege ich bereits, was wir nachher zu unserem Picknick mitnehmen, wohin wir wohl am besten fahren und ob wir da vielleicht ungestört sind. Viel schneller als erwartet erreiche ich die Galerie und mache mich sogleich an dem schwarzen Fahrradschloss zu schaffen.

„Oh", höre ich auf einmal eine Stimme hinter mir. „Hey, Sie waren Henrys Freund, richtig? Maximilian?"
Langsam richte ich mich auf und drehe mich zu dem mir inzwischen verhassten Mann um. Heute trägt er eine hellblaue, enge Shorts und ein weißes Tanktop. „Sorry, ich bin richtig schlecht mit Namen", lacht Liam und blickt sich suchend um. „Wo ist Henry?"

„Der Name ist Max", knurre ich und funkele ihn wütend an. „Und ich bin Henrys fester Freund. Henry ist nicht hier und er wird auch nicht kommen. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie ihn außerhalb der normalen Arbeitszeiten in Ruhe ließen und auch während Ihrer gemeinsamen Treffen davon absehen, ihn zu berühren."

Liams Augen weiten sich kurz, doch offenbar ist meine Aura unmissverständlich, denn er macht verlegen einen Schritt zurück und legt sich theatralisch die Hand über seine muskulöse Brust. „Oh", macht er. „Ich wollte ganz sicher keine falschen Signale senden."

„Senden Sie einfach überhaupt keine Signale", unterbreche ich sein hektisches Gefasel. „Ihr Kontakt ist rein professionell und jetzt wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir Ihre Ausreden ersparen und mich ein heißes Wochenende mit meinem heißen Freund verbringen lassen. Allein. Guten Tag."
Damit drehe ich mich abrupt von ihm weg, packe energisch mein Fahrrad und steige schwungvoll auf, um dann mit erhobenem Haupt den Schauplatz des Geschehens zu verlassen.

Ich kann spüren, dass meine Hände leicht zittern und auch meine Knie fühlen sich weich an, denn ich kann mich nicht erinnern, jemals so deutlich abweisend zu jemandem gewesen zu sein. Gleichzeitig fühle ich mich unsagbar erleichtert und kann es kaum erwarten, Henry gleich beim
Picknick davon zu erzählen.

•••

Als ich zu Hause ankomme, ist natürlich noch keine Spur von Henry zu sehen. Ich beginne also, in der Küche Sandwiches vorzubereiten und in Dosen zu verpacken. Ich hole den Picknickkorb, den Henry bei seinem Einzug mitgebracht hat, vom Schrank und fülle ihn mit Besteck und den Sandwichdosen. Leider macht der Kühlschrank mangels Inhalt meinen Plan, auch etwas Obst und Gemüse kleinzuschneiden, zunichte und so schreibe ich eine kurze Notiz für Henry, die ich auf den Küchentisch lege:

Liebster Henry,
ich bin noch einmal im Supermarkt an der Ecke, um Obst und Gemüse zu holen. Bitte warte auf mich.
Ich liebe dich!
Dein Maxwell

Ich rechne fast damit, dass Henry auch nach meinem Einkauf noch nicht zurück sein wird, aber sicher ist sicher. Da ich aktuell über kein Handy verfüge, wird wohl diese alte Methode ausreichen müssen.

Im Supermarkt, der in unmittelbarer Umgebung meiner Wohnung liegt, kenne ich mich inzwischen so gut aus, dass ich alles, was ich benötige, auf Anhieb finde. Ich suche frische Äpfel, ein paar Gurken und auch Bananen, die ich in meinen mitgebrachten Einkaufskorb lege. Neben den Bananen fallen mir kleine, gelbe Früchte ins Auge und ich frage mich, was diese wohl sind. Ein Informationsschild an dem Korb, in dem sich die eiförmigen, gelben Bällchen befinden, klärt mich auf:

Kumquat
- Ursprung China oder Vietnam
- auch Zwergorange genannt
- herb-süßliches Aroma
- Schale zum Verzehr geeignet

Ich zögere kurz, doch der absonderliche Name dieser verlockenden Früchtchen lässt mich eine kleine Schale, die mit den gelben Kugeln gefüllt ist, ebenfalls in meinen Einkaufskorb legen.

Wieder zu Hause ist noch immer nichts von Henry zu sehen. Ich schneide die Äpfel und Gurke, wasche die Kumquats unter dem Wasserhahn ab und postiere alles in Dosen in den Picknickkorb. Zu guter Letzt packe ich uns noch Getränke und zwei Tüten meiner Drachenfutterauswahl ein und entschließe mich, Henry entgegenzufahren.

Mit dem Picknickkorb fest auf meinem Gepäckträger verzurrt, fahre ich den Weg, den Henry vermutlich immer zwischen der Wohnung und dem Atelier wählt. Ich muss einem großen Feuerwehrauto ausweichen und frage mich, ob es häufig vorkommt, dass Feuerwehrautos in Unfälle verwickelt werden. Wenn ja, wer kommt dann, um diese zu retten?

Als ich mich dem Gebäude nähere, das überwiegend aus Ateliers oder Lagerräumen besteht, sehe ich einige offensichtlich aufgeregte Menschen davorstehen. Für einen geschockten Moment frage ich mich, ob das Feuerwehrauto von hier kommt, doch ich kann weder Rauch noch Feuer sehen oder riechen.

Vorsichtig stelle ich mein Fahrrad etwas entfernt von den Menschen ab und lausche ihrer aufgebrachten Unterhaltung. Einer der Männer ist vollkommen dreckig und durchnässt und ich frage mich, ob er wohl gerade in eine Pfütze gefallen ist und wo man bei so heißem Juliwetter eine Pfütze findet.

„Ich hatte keine Hand frei und habe den Kleiderbügel an dieses Ding an der Decke gehängt", faselt der nasse Mann aufgebracht. „Und das Nächste, was ich weiß, ist, dass dieses ganze dreckige Wasser aus diesen Dingern an der Decke schießt! Im Fernsehen sieht das immer so aus, als wäre das wie in einer Dusche. Aber dass dieses Wasser braun und schimmelig und eklig und stinkig ist, das sagt einem niemand! Warum bringt der Vermieter da denn denn keine Warnhinweise an?"
„Das verstehe ich auch nicht", entsetzt sich eine untersetzte Frau, die danebensteht und seinen Erklärungen lauscht. „Sonst stehen doch auch überall Warnhinweise."

Offenbar hat dieser Mann die Sprinkleranlage ausgelöst und eine dunkle Vorahnung legt sich um mein Herz. Wie von Sinnen stürme ich ins Gebäude und höre noch, wie die Leute mir nachrufen: „Hey Mister! Da drinnen steht alles unter Wasser!"

Ich haste die Treppen nach oben, nehme zwei Stufen auf einmal und gleite ein paar Male fast aus, ehe ich die Tür zu Henrys Atelier erreiche. Ich stoße die Tür auf und bin plötzlich wie eingefroren.

Alles tropft, der Boden ist nass und es stinkt wie im Moor. Ich sehe schmutzige, zum Teil verlaufene oder unter der Nässe eingerissene Leinwände und mittendrin kniet ein in die Leere starrender Henry.

Wortschatz | ✓Where stories live. Discover now