Sonata

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Vor dem Buchladen nimmt Henry meine Hand, zieht mich an sich und küsst meinen Mund ganz sanft.
„War es gut?", fragt er und ich lächele.
„Ja, das war ein sehr schöner Kuss."
Henry lacht und schüttelt amüsiert seinen Kopf.
„Ich meinte die Arbeit, du kleiner Witzbold."

Ich lächele noch breiter und antworte: „Es war richtig gut. Mr. Worms ist unglaublich nett und hat mir einen Zauberwürfel angeboten, als ich nervös wurde und dann hat er mir von seinem Bruder erzählt und wir haben über Bücher gesprochen, die jeder anfasst und-"

Henry legt kichernd seinen Zeigefinger auf meine Lippen und flüstert: „Ich merke schon, dass deine Antwort länger ausfällt, darum muss ich dich an dieser Stelle leider kurz unterbrechen."
Stirnrunzelnd sehe ich ihn an und er zwinkert mir zu. Plötzlich fällt mir die Überraschung, von der er sprach, wieder ein und ein kribbeliges, aufgeregtes Gefühl breitet sich in meinem Bauch aus.

„Wollen wir?", fragt Henry und hält mir seinen angewinkelten Arm hin, damit ich mich bei ihm einhaken kann, wie ein altes Pärchen es beieinander tun würde.
„Und was machen wir?", frage ich neugierig.
„Zunächst einmal gehen wir einen Block weiter zu dem Parkplatz, an dem Jenny und Dominic auf uns warten", verkündet mein hübscher Freund und spaziert mit mir los.

Jenny und Dominic warten wie angekündigt auf dem Parkplatz an Dominics Auto. Meine Schwester, heute in einem flatternden, blumigen Sommerkleid, kommt stolz lächelnd auf mich zugeeilt. Sie umarmt mich fest und küsst meine Wange, bevor sie flüstert: „Ich bin so stolz auf dich, Max."
„Danke, Jenny", wispere ich zurück und sehe den lächelnden Dominic an.

„Und?", möchte er wissen. „Wie hat es dir gefallen, Max?"
„Es war wirklich interessant", erwidere ich ehrlich. „Mr. Worms ist sehr nett und wir haben uns gut verstanden, denke ich."
Jenny macht vor Freude kleine Hüpfer neben mir und schiebt mich auf Dominics Auto zu.
„Und jetzt?", frage ich verwirrt und sehe sowohl meine Schwester als auch Henry freudig grinsen.
„Jetzt kommt deine Überraschung", verkündet Henry und öffnet mir eine der hinteren Türen, damit ich ins Auto steige.

„Ihr verbindet mir jetzt aber nicht die Augen, oder?", frage ich ein wenig ängstlich und Henry schiebt sich neben mich auf den Rücksitz.
„Ich hatte es kurz erwogen", grinst er. „Aber es wird auch so gehen. Außerdem ist das Wetter so schön, da wäre es schade, wenn du nichts davon mitbekommst."
Dominic startet das Auto und wir fahren los.

Während der Fahrt fragen Jenny, Dominic und vor allem Henry mich über meinen Arbeitstag aus und sind bei meinen Erzählungen ebenso begeistert wie ich. Wenn es nach mir ginge, könnten wir jetzt auch einfach nach Hause fahren, denn allein diese Autofahrt und ihre freudigen Nachfragen und das ehrliche Interesse an meinen Erlebnissen ist für mich Überraschung und Glück genug.

Doch nach und nach lassen wir die großen Gebäude der Stadt hinter uns, bis ländliche Umgebung draußen zu erkennen ist. An uns vorbei ziehen Alleen, kleine Waldstücke und Felder, von denen Dominic eines auszuwählen scheint und hier in einen Feldweg einbiegt, auf dem wir holprig weiterfahren. Fragend sehe ich Henry an, der mich nur mit funkelnden Augen anlächelt und mich schon fast aus dem Auto zerrt, als wir letztendlich halten.

Ich blicke mich um, blinzele etwas unbeholfen in der grellen Sonne und kann bis auf ein großes Feld mit grünen, kleinen Pflanzen in Reihen neben uns zunächst nichts Signifikantes erkennen. Henry greift meine Hand und zieht mich am Rande des Felds entlang auf eine kleine rot-weiß-gestrichene Hütte zu. Darin steht eine junge Frau, die uns anlächelt, als Henry sie strahlend begrüßt: „Hi, wir hätten gern zwei große Körbe."

Vor dem Mädchen, das kaum älter als siebzehn sein kann, stehen allerlei Produkte, die mit Erdbeeren zu tun haben. Erdbeermarmelade im Glas, Erdbeerbonbons, Erdbeerlimonade. Ganz offensichtlich handelt es sich hier um einen Erdbeerverkaufsstand.
„Wir kaufen Erdbeeren?", frage ich lächelnd.

Ich liebe Erdbeeren. Nach reiflicher Überlegung kann ich sagen, dass Erdbeeren meine Lieblingsfrüchte sind und vermutlich habe ich aus diesem Grund die Farbe hellrot für den Juni gewählt, denn leider ist die Saison für richtig schmackhafte Erdbeeren äußerst kurz.

„Nein", kichert Henry und nimmt zwei leere Körbe von der Erdbeerverkäuferin entgegen. „Wir pflücken welche."
„Naschen ist erlaubt", fügt das nette Mädchen hinzu und ich bekomme ein Zwinkern von Henry, der mir einen der Körbe gibt und dann zum Feld geht. Ich folge ihm zögerlich und als ich mich umdrehe, sehe ich auch Jenny und Dominic an der kleinen Bude nach Körben fragen.

Henry geht auf den strohbedeckten Wegen zwischen den Reihen aus Erdbeerpflanzen hindurch immer weiter zur Mitte des Feldes und bleibt schließlich stehen, um eine der kleinen, roten Früchte zu pflücken. Ich beobachte ihn, wie er die Erdbeere an seine Nase hält, tief einatmet und seine Augen schließt, während er den Duft einsaugt. Ich frage mich, was die junge Frau mit Naschen meinte, denn ich habe nirgends eine Möglichkeit gesehen, die Früchte zu waschen. Suchend blicke ich mich um und als ich mich zu Henry zurückdrehe, ist die Erdbeere verschwunden, doch er kaut genüsslich.

Entsetzt reiße ich meine Augen auf.
„Willst du sie nicht abwaschen, Henry?", frage ich entsetzt. „Die Erdbeeren sind doch gar nicht-"
Doch Henry bückt sich, pflückt eine weitere Frucht und hält sie vor meine Nase.
„Riech mal", fordert er mich auf und ich schnuppere zaghaft. Der süße, volle Duft durchströmt mich und ich kann buchstäblich fühlen, wie mir das Wasser im Munde zusammenläuft. Henry lässt die von der Sonne erwärmte, glatte Beere über meine Lippen streifen und wispert: „Das ist Sonata. Die schmecken am besten."

„Sonata? Ist das nicht ein Musikstück?", will ich wissen.
„Nein, das ist eine Sonate. Aber diese Sorte hier heißt Sonata. Eine der frühen Erdbeersorten mit kleinen, hellroten Früchten mit besonders intensivem Aroma. Koste sie", flüstert er und ich gebe nach. Meine Zähne bohren sich in das saftige Fruchtfleisch und der süße Saft verteilt sich augenblicklich in meinem Mund. Ich kann förmlich fühlen, wie meine Pupillen sich weiten, so unfassbar gut schmeckt diese warme Süße und ich stöhne leise auf.

„Gut, oder?", grinst Henry stolz und ich seufze leise.
„Das ist das Leckerste, was ich je gekostet habe", entgegne ich und Henry küsst meinen noch saftverzierten Mund.
„Okay, das Drittleckerste", kichere ich und ernte einen fragenden Blick von meinem Freund.
„Platz eins und zwei sind definitiv Teile von dir", raune ich geheimnisvoll, bevor ich ihm einen weiteren Kuss gebe.

Wortschatz | ✓Where stories live. Discover now