Duende

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Etwa eine Stunde später weiß ich, dass ich weder Fachkraft für Lebensmitteltechnik noch Controller werden möchte. Ich mag zwar Ordnung, aber welche in die Buchhaltung anderer zu bringen, würde mich vermutlich unfassbar frustrieren.
Und Essen verpacken oder zu testen? Unvorstellbar für mich.

Das Einzige, was mich halbwegs ansprach, war der Beruf des Buchhändlers. Sowohl Dominic als auch Henry schmunzelten, als ich angab, dass ich Büchern von all den genannten Dingen, mit denen man im Beruf tagtäglich zu tun hätte, noch das meiste abgewinnen könne und ich werde das Gefühl nicht los, dass beide das von Anfang an schon geahnt haben.

Dominic hat mir erklärt, dass man als Buchhändler später auch in einem Verlagshaus arbeiten könnte, in dem man dann beispielsweise Manuskripte gegenliest und korrigiert und sofort fing Henry davon an, dass er und ich ja eine Affinität für Rechtschreibung hätten. Das Wort ‚Pilkunnussija' habe ich diesmal angebracht und Henry damit ein süßes Lachen entlockt.

Die Tür des Cafés öffnet sich und Jenny kommt auf uns zu. Sie trägt ein leichtes, blumenbedrucktes Sommerkleid, weil es heute bereits frühsommerliche Temperaturen sind und ihr Gesicht gleicht der Sonne, so sehr strahlt sie, als sie uns an unserem üblichen Platz sitzen sieht.

Dominic springt auf, wirft einen Bitte-verratet-meinen-Plan-nicht-Blick in unsere Richtung und breitet gerade rechtzeitig seine Arme aus, in die meine Schwester förmlich springt und sich von ihm herumwirbeln lässt.
„Hey", lacht Jenny atemlos und wird, wie beim letzten Mal, auf Dominics Schoß gezogen.

Ich frage mich, ob sie zu Hause auch nur noch auf seinem Schoß sitzt. Ob das nicht auf Dauer unbequem ist und ob Henry wohl auch gern auf meinem Schoß sitzen möchte oder ich auf seinem. Das letzte Mal, dass ich auf seinem Schoß saß, war...oh!

„Und? War was dabei?", reißt Jennys Frage mich zurück und ich bin ihr innerlich dankbar für ihre unbewusste Rettung.
„Wir schauen mal", lächelt Dominic. „Ich kenne den ein oder anderen Buchhändler, bei dem ich nachfragen werde, ob Max mal reinschnuppern dürfte." Er dreht sich wieder zu mir. „Natürlich nur, wenn du willst. Niemand sagt, dass du das machen musst, Max."

Ich nicke fest entschlossen, denn bei dem ganzen Gerede über Berufe und Arbeit ist mir klar geworden, dass ich das durchaus möchte. Ich möchte gern abends nach Hause kommen und Henry etwas anderes zu erzählen haben, als was ich im Park beobachtet habe oder welche Dokumentation im Fernsehen lief oder wie das Buch, das ich gelesen habe, zu Ende ging.

„Das finde ich so spannend", freut sich Jenny und steht kurz auf, um mich zu umarmen. Unbeholfen lächele ich und blicke hilflos zu Henry, der zu spüren scheint, dass ich allmählich überfordert mit der Situation bin.
„Wollen wir dann?", schlägt er vor und Jenny blickt uns ein wenig enttäuscht an. „Ich habe den ganzen Nachmittag Skizzen gemacht, ich muss zumindest noch etwas davon auf Leinwand bekommen, sonst platzt mein Kopf."

Ich stehe auf und klemme mir mein Maibuch - übrigens schon das Zweite diesen Monat, Henry hat sein Versprechen gehalten und mir ein weiteres himmelblaues Buch gestaltet - unter den Arm.
„Ich schreibe dir, wenn ich Neuigkeiten habe, Max", bietet Dominic freundlich an und an seinem Grinsen erkenne ich, dass er nicht nur meinen eventuellen Berufseinstieg meinte sondern auch seinen Schlüsselplan für Jenny.

•••

Sobald wir das Atelier betreten, zieht Henry sein weißes Shirt über seinen Kopf und lässt es achtlos neben sich auf den Boden fallen. Ich beäuge das Kleidungsstück skeptisch und blicke meinem eiligen Freund nach, der sich bereits an Farbtuben und Pinseln zu schaffen macht.

„Oh", mache ich, als ich verstehe, dass er sich gerade nicht wegen mir auszieht und hebe den weichen Stoff vom Boden auf, um ihn sorgfältig zusammenzulegen.
„Ja", murmelt Henry geistesabwesend. „Ich möchte dich nachher gern noch nackt, aber gerade muss ich dringend dieses eine Bild malen. Ist das in Ordnung, Maxwell?"

Lächelnd lege ich sein Shirt über die Lehne des Sofas, gehe auf ihn zu und halte meine Hand auf.
Seine Augen, die hektisch über die Leibwand huschten, blicken mich kurz fragend an.
„Deine Hose?", verlange ich. „Ich lege sie zusammen. Störe ich dich oder darf ich dir zusehen?"
Eilig zerrt er seine Hose von seinen Beinen und reicht sie mir dankbar.
„Bleib", faselt er. „Bitte bleib. Dann kannst du mir gleich sagen, ob ich es erreicht habe."

„Was erreicht?", hake ich nach, als ich den festen Stoff ordentlich zusammenfalte und zurück zum Sofa gehe, um die Hose auf die Lehne und das Shirt auf die Hose zu legen.
„Duende", brummt Henry mehr zu sich selbst und presst erste dunkle Farbkleckse auf seine Mischpalette.
„Was ist zu Ende?", frage ich erschrocken und er schüttelt den Kopf.
„Duende. Die geheimnisvolle Kraft eines Kunstwerks, die den Betrachter bewegt. Das will ich schaffen."

„Das schaffst du mit all deinen Werken, Henry", versichere ich ihm und fast wie ein wahnsinniger Professor aus einem klischeebehafteten Film der Neunziger schüttelt er seinen Kopf.
„Es muss... episch werden."
Aufmunternd lächele ich ihm zu und gehe in die kleine, angrenzende Küche, wo ich uns beiden zwei Gläser mit Wasser vorbereite.

Statt für das Sofa entscheide ich mich heute für den Sitzsack im Atelier. Henry malt wie ein Besessener, murmelt mehr zu sich selbst und scheint vollkommen in seiner eigenen Welt versunken zu sein.

Für mich ist das schon dieses Duende. Henry beim Malen zu beobachten. Die Sache, die ihn glücklich macht, die als Ventil für seine Emotionen funktioniert, mit der er die Welt verändern will und wird. Henry selbst ist für mich in diesem Moment schon Kunst und genau diese Gedanken schreibe ich mein himmelblaues Maibuch.

Als meine Hand und meine Augen müde werden, lehne ich mich entspannt zurück und denke darüber nach, ob Buchhändler als Beruf wohl wirklich die richtige Wahl für mich ist. Kann ich mir vorstellen, tagtäglich mit Büchern und Manuskripten zu tun zu haben? Ja, das könnte ich. Vielleicht findet sich wirklich eine Möglichkeit, dass ich nicht allzu viel mit Kunden interagieren muss und wenn ich den theoretischen Teil nicht in einer Berufsschule, sondern von zu Hause machen könnte, wäre das durchaus eine Option für mich.
Ich denke, ich werde Dr. Cooke dazu befragen.

Mit den Gedanken über das Sortieren von Bücherregalen und Schlüsseln in Briefumschlägen fallen mir schließlich die Augen zu und ich nicke auf Henrys Sitzsack ein.

Wortschatz | ✓Where stories live. Discover now