Pretoogjes

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Neben mir raschelt es und ich öffne müde meine Augen. Neben dem Bett, direkt vor meinem Gesicht, hockt Henry und blickt mich ertappt an.
„Guten Morgen", presst er hervor und ich muss grinsen, weil er so bedröppelt aussieht.
„Guten Morgen", erwidere ich mit belegter Stimme und reibe über mein Auge.
„Möchtest du weiterschlummern?", schlägt Henry vor, doch ich schüttele den Kopf.
„Kaffee?", ist sein nächstes Angebot.

„Was machst du unter dem Bett?", frage ich stattdessen und er schaut mich unschuldig an.
„Nichts?", piepst er und ich kichere.
„Suchst du etwa ohne mich?"
„Warum suchen?"
„Weil heute Ostern ist und ich aus meinen Fehlern lerne", erkläre ich liebevoll.
„Ich darf suchen?"
„Was hast du sonst unter dem Bett gemacht?", will ich wissen.

„Hmm... das Gegenteil von Suchen", überlegt er und ich setze mich auf, um mich nach vorn zu beugen und einen Blick unter das Bett zu erhaschen. Henry packt meine Schultern und zieht mich wieder hoch.
„Nein, nein, mein Freund", hält er mich ab. „Erst möchte der Osterhase einen Kuss."
Suchend blicke ich mich um.
„Du hast einen Hasen gekauft?"

In meinem Kopf überlege ich, welch einen Aufwand die Pflege eines kleinen, pelzigen Mitbewohners mit sich bringt und ob ich dieser Aufgabe gewachsen bin. Wenn ich es nicht einmal fertigbringe, eine simple Topfpflanze am Leben zu erhalten, habe ich bereits jetzt großes Mitleid mit einem armen Hasen, der vermutlich ein kurzes, tristes Dasein in meiner Obhut fristen wird, weil ich ihn entweder vergesse oder mich vor ihm fürchte oder beides.

„Hey", lacht Henry und holt mich mit seiner Hand an meiner Wange zurück ins Hier und Jetzt. „Kein Hase. Ich bin dein Osterhase und hätte gern einen Kuss."
Erleichtert atme ich auf und gebe ihm, was er verlangt. Seine Lippen sind weich und warm wie immer und wie immer aktiviert unsere kleine Berührung die Kolibris in meinem Inneren.

„Dann bin ich wohl dein Osterhase", flüstere ich an seinen Lippen und fühle, wie sein Mund sich zu einem Lächeln verzieht.
„Dann bekommst du auch einen Kuss", kichert er und küsst mich erneut, bevor er seine Nasenspitze sanft an meiner reibt. Das Gefühl kitzelt und lässt in mir den Wunsch aufkeimen, genau das aufzuschreiben.

„Brauchst du einen Stift?", fragt Henry grinsend und scheint damit wieder einmal meine Gedanken zu lesen.
„Hmm, ja", überlege ich, denn um ehrlich zu sein, bin ich gerade hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis zu schreiben und dem Bedürfnis, ihm beim Suchen zuzusehen.

Mit einem frechen Funkeln in den Augen zeigt Henry unter das Bett.
„Vielleicht weiß ich ja, wo du einen Stift findest", kichert er.
„Pretoogjes", sage ich und er runzelt die Stirn.
„Gesundheit?", erwidert er kichernd.
„Du kennst das Wort nicht?", frage ich verdattert. So etwas geschieht nicht oft und ich muss zugeben, dass mich das warme Gefühl von Stolz erfüllt, ein Wort gefunden zu haben, das Henry noch nicht kennt.

„Das ist Niederländisch für Spaßaugen", erkläre ich. „Wenn jemand im Begriff ist, etwas Freches oder Spaßiges zu tun. Genauso funkeln deine Augen gerade, Henry."
Er schmollt leicht und sagt: „Jetzt brauche ich den Stift gleich selbst."
Schnell setze ich mich auf, nehme sein Gesicht in beide Hände und gebe ihm einen dicken Schmatzer auf den Mund.
„Nix da! Jetzt werden Eier gesucht."

Da sind wieder seine Pretoogjes, als er grinsend nach dem Bund meiner Boxershorts greift und sagt: „Okay, dann eben später die Ostergeschenke."
Ich lache laut auf und halte seine Handgelenke fest. „Ich meinte die Ostereier, Henry."
„Ach so... schade", mimt er Enttäuschung. „Dann suche ich deine-"

Ich halte ihm lachend meine Hand vor den Mund und sage: „Jetzt such' einfach!"
Kichernd springt er auf und beginnt wie ein kleines Kind durch die Wohnung zu flitzen. Ich rutsche unterdessen vom Bett und schaue nach, was er darunter versteckt hat. Witzig, dass er eines meiner verstauten Eier dabei gar nicht gesehen hat, denke ich, als ich das kleine, grasgrün verpackte Geschenk hervorziehe.

Als ich das Papier vorsichtig löse, fördere ich ein Notizbuch mit einem passenden grasgrünen Stift zutage. Das Buch muss beim Erwerb schlicht weiß oder einfach farblos gewesen sein, doch Henry hat es mit grasgrünen Blättern bemalt und in einem dunkleren Grünton allerlei Worte kunstvoll darauf geschrieben. Ich lese „Ostersuchfreuden", „Frühlingsspaziergänge" und noch viele andere, wunderbare Worte.

Henry kommt aufgeregt ins Schlafzimmer zurückgesaust und blickt mich atemlos an. In seinen Händen hält er bereits fünf der gefundenen Eier und legt diese vorsichtig aufs Bett.
„Was sitzt du da rum?", fragt er aufgeregt. „Es gibt noch viel mehr zu finden für dich!"
„Im Ernst?", mache ich verblüfft und streiche ehrfürchtig über das kunstvoll gestaltete Notizbuch. „Aber das ist doch schon so perfekt."
„Hat das Jahr vielleicht mehr als nur einen Monat, Maxwell?", meckert er gespielt. „Hoch mit deinem hübschen Hintern."

Und so suchen Henry und ich gemeinsam die Wohnung ab. Zugegeben, ich verbringe mehr Zeit damit Henry zu beobachten, wie er freudig quietscht, wenn er ein weiteres Ei findet oder mich begeistert anstrahlt, als ich weitere Pakete aus dem Kühlfach oder dem Schuhschrank ziehe. Diese Pakete lasse ich zunächst verpackt und lege sie neben Henrys Eierstapel und dem großen Päckchen, das ich hinter dem Fernseher versteckt hatte, aufs Bett.

Als wir beide der Meinung sind, alles gefunden zu haben, sitzen wir gemeinsam in unserem Präsentstapel und ich wünsche mir wieder einmal so wie Henry malen zu können, weil sein Gesicht vor Freude so strahlt, dass mein eigenes Herz um das Dreifache anschwillt.

„Danke, Maxwell", flüstert er glücklich und ich grinse ihn an.
„Denkst du, das sind nur einfache Eier?", frage ich und er runzelt die Stirn, während er eines von ihnen zwischen die Finger nimmt.
„Aufmachen", befehle ich und er drückt das kleine Plastikei vorsichtig auf. Darin befindet sich mein handgeschriebener Zettel, den er vorliest:

„Fellatio, keine Pastasorte, wie ich lernen durfte, sondern etwas sehr viel Delikateres, was ich dank dir noch lieber mag als Nudeln."

Meine Wangen werden ganz heiß und ich befürchte, sie sind tiefrot, denn Henry hat ausgerechnet den Zettel gefunden, bei dem ich bis zuletzt gezögert habe, ihn zu schreiben.
„Sind da überall Worte drin?", fragt er mich und ich nicke schüchtern.
„Alle, bei denen ich an dich denken muss und warum", flüstere ich und im nächsten Moment fällt er mir so schnell um den Hals, dass ich zurück aufs Bett und die ganzen kleinen Päckchen von ihm falle.

„Du bist sowas von süß", lacht er unter kleinen Küssen, die er auf meinem Gesicht verteilt. „Und heute Abend gibt es extra viel Fellatio für dich."
Meine Wangen werden noch röter und ich lenke schnell ab, indem ich auf das Paket zeige, das hinter dem Fernseher lag.
„Ich hab auch noch was anderes."

Begeistert greift Henry nach dem Geschenk und zieht einen Skizzenblock und eine Packung Stifte hervor.
„Das sind Pinselstifte", erkläre ich. „Damit kannst du quasi unterwegs zeichnen, wenn du gerade keine Pinsel oder Leinwände parat hast."
„Danke, Maxwell", haucht er und betrachtet begeistert mein Geschenk. „Ich liebe es. Alles daran. Das Suchen, die Worte, dass du dir so viel Mühe gegeben hast. Ich liebe dich."

Ein warmes, wohliges Gefühl durchströmt meine Adern und ich greife seine weiche Hand.
„Und ich liebe dich, Henry."

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